Turmschatten. Peter Grandl

Turmschatten - Peter Grandl


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hatte deren Aufmärsche und Versammlungen nur herablassend belächelt und zu keiner Zeit wirklich ernst genommen. Es gab andere Themen, die ihre wertvolle Zeit dringender in Anspruch nahmen als Glatzköpfe in Springerstiefeln und »Ausländer Raus«-Schmierereien. Sie hatte sich getäuscht. Der Erfolg der NPD war nicht nur die größte Demütigung ihrer gesamten Karriere, sie empfand ihn auch als persönliche Niederlage, an der sie sich eine Mitschuld gab.

      Bei einer Fernsehdebatte gelang es dem NPD-Vorsitzenden Thielen, sie derart zu provozieren, dass sie sich zu einigen lautstarken Beleidigungen hinreißen ließ. Ihre Schimpftirade ging wie ein Lauffeuer durch die sozialen Medien. Über YouTube war der Wutausbruch von Rechtsradikalen verbreitet worden, wodurch sich ihr Sympathie-Index bei jungen Wählern erdrutschartig verschlechterte.

      »Facebook, Twitter, YouTube. Meinungsbildung im Netz, was für ein Unsinn«, hatte sie noch während des Wahlkampfs behauptet. Danach musste sie sich eingestehen, dass sie das digitale Zeitalter verschlafen hatte. Die bundesweite Presse hatte den Blick auf das Wahlergebnis ihres Bundeslandes gerichtet und zeigte mit dem Finger auf diesen braunen Schandfleck. Nach fünf Jahren erfolgloser Oppositionsarbeit trat sie 2009 nicht mehr zu den Landtagswahlen an, sondern suchte einen Weg zurück in die Kommunalpolitik. Sehr zum Unmut des neuen Bürgermeisters hatte man ihr zähneknirschend einen ehrenamtlichen Sitz im Stadtrat zugebilligt. Sie war wieder im Rennen.

      War sie zu alt geworden für diesen Job? O nein, eine Kämpfernatur wie Seligmann gab sich nicht so leicht geschlagen. Und eines würde sie nie wieder tun: die Macht der digitalen Medien unterschätzen. Sie hatte erreicht, dass man extra für diese Aufgabe einen Referenten eingestellt hatte, der sich um die Social-Media-Aktivitäten des Stadtrats kümmern sollte und der, wenn auch nicht offiziell, de facto durch sie gesteuert wurde. Außerdem hatte sie sich bei Amtsantritt vor einem Jahr für das stagnierende Projekt des Synagogen-Neubaus eingesetzt und war damit zum Sprachrohr der jüdischen Gemeinde im Stadtrat geworden. Tatsächlich sah es nun danach aus, als würde der Spatenstich mitten im Zentrum der Stadt in wenigen Monaten stattfinden.

      Sie selbst war Jüdin, aber nicht besonders gläubig. Ihr ging es nicht um den Bau eines neuen Gotteshauses, ihr ging es um eine »Antwort«, die weit über die Landesgrenzen hinaus gehört werden sollte, und darum, der rechten Szene einen schweren Schlag zu verpassen.

      Mit leicht gesenktem Kopf folgte Sven Götze, Seligmanns neuer Social-Media-Experte, seiner Chefin, vorbei an leeren Parkplätzen quer durch die Tiefgarage des Rathauses. Mit seinen gerade mal sechsundzwanzig Jahren war der Job als Referent an der Seite dieser berühmten Politikerin für ihn besonders aufregend. An ihren ruppigen Ton hatte er sich sofort gewöhnt, nicht aber an ihre langen schnellen Schritte, denen er kaum folgen konnte, weshalb er immer leicht hinter ihr ging wie ein Hotelpage.

      »Und wieso dauert die Programmierung so lange?«

      Seligmann hatte geplant, ein eigenes Online-Magazin der Stadt zu etablieren, mit dem sie von nun an die sozialen Kanäle wirkungsvoller befeuern konnte und dessen erstes großes Thema der Bau der Synagoge sein würde.

      »Nach den Bestimmungen des BGG müssen alle neuen Webseiten staatlicher Einrichtungen barrierefrei sein. Also behindertengerecht«, antwortete Götze.

      »Und?«

      »Das bedeutet skalierbare Texte, Navigationsmöglichkeit ohne Maus, Sprachsteuerung …«

      »Götze!«, unterbrach ihn Seligmann und bliebt abrupt stehen. »Ich wusste schon, was Barrierefreiheit bedeutet, da haben Sie noch nicht mal Internet buchstabieren können. Also, ich will wissen, wie viel Zeit wir dadurch verlieren?«

      »Vier Wochen. Maximal zwei Monate«, antwortete Götze zögerlich.

      »Götze! Gerade aufgrund Ihrer hohen Sachkenntnis halte ich Ihre undifferenzierte Angabe für inakzeptabel. Finden Sie einen Weg, um die Seite schneller online zu setzen. Ich habe keine zwei Monate. Von mir aus pfeifen Sie auf die Barrierefreiheit.«

      »Das lässt uns die IT-Abteilung niemals durchgehen!«

      »Lassen Sie das mal meine Sorge sein.«

      Ein gelangweilter Sicherheitsmann beobachtete die beiden über einen von vier Monitoren, als sich ein Audi A4 den Schranken näherte, die er durch eine große Glasscheibe zu kontrollieren hatte. Um diese Uhrzeit war es meist ruhig, denn kaum jemand in dieser Behörde arbeitete so lange wie Frau Seligmann.

      Seine Nachtschicht hatte gerade begonnen. In einer halben Stunde würde er die Tiefgarage für heute dichtmachen und dann in dreistündigen Abständen seinen Rundgang durch das Rathaus antreten. Er war autorisiert worden, eine kleinkalibrige Waffe und einen Schlagstock mitzuführen. Beides hatte er im Leben noch nie einsetzen müssen.

      Die Gemeinde hatte erst kürzlich beschlossen, einen privaten Sicherheitsservice mit der Bewachung zu beauftragen, nachdem bereits zweimal eingebrochen worden war und sensible Akten verschwunden waren.

      Der Audi blieb an der Schranke stehen, doch sie öffnete sich nicht automatisch. Offensichtlich niemand vom Haus, denn die hatten alle eine elektronische Plakette, und private Besucher durften nur während des »Parteiverkehrs« einfahren. Um diese Zeit verweigerte der Ticketautomat bereits seinen Dienst, und der Wachmann hatte die unangenehme Pflicht, seinen warmen Glaskasten zu verlassen und den Fahrer zum Umkehren zu bitten. Schon jetzt hasste er den Fahrer des Audi, der bereits zweimal die Klingel betätigt hatte, die in seinem Kontrollraum schellte und für seinen Geschmack viel zu laut eingestellt war. Er raffte sich auf, ließ aber aus Bequemlichkeit den Halfter mit Schlagstock und Pistole an der Stuhllehne hängen.

      Griesgrämig blieb der rundliche Sicherheitsmann neben dem Auto stehen, hinter dessen automatisch öffnendem Seitenfenster ein junger Mann mit Anzug erschien.

      »Parteiverkehr ist seit zwei Stunden vorbei, kehren Sie bitte um und kommen Sie morgen wieder«, spulte der Sicherheitsmann monoton seinen Text ab.

      »Ich arbeite hier, ich habe nur meine Chip-Karte vergessen!«

      Der Sicherheitsmann sah sich den Fahrer nun genauer an. Irgendwie sah der nicht aus wie ein Politiker. Der breite Nasenrücken war das beste Zeichen für eine gebrochene Nase, und das zerknitterte Sakko spannte sich rund um die Schultern und Oberarme. Er kannte solche Typen und bedauerte es jetzt, den Gurt mit Schlagstock und Pistole an der Stuhllehne vergessen zu haben.

      »Ihren Ausweis bitte!«, forderte er den Fahrer auf. Der Typ im Sakko grinste nur.

      »Ich habe meinen Ausweis zusammen mit der Chip-Karte zu Hause liegen lassen, müsste aber dringend noch mal ins Büro.«

      »In Ordnung, dann geben Sie mir bitte Ihren Namen, und ich werde Ihre Personalien und das Kennzeichen des Wagens überprüfen.«

      Er zückte einen Notizblock und entfernte sich ein kleines Stück vom Wagen, um sich das Kennzeichen zu notieren.

      Der Fahrer wurde sichtlich nervös.

      »Hören Sie, ich bin mit einem Leihwagen unterwegs, mein Dienstwagen ist in der Werkstatt.«

      Der Sicherheitsmann steckte misstrauisch den Notizblock wieder in die Jackentasche und schüttelte den Kopf.

      »Hören Sie, ich würde Ihnen ja wirklich gerne helfen, aber so kann ich Sie auf keinen Fall passieren lassen. Ich muss Sie also bitten, die Einfahrt wieder frei zu machen. Ich werde noch anderweitig gebraucht.«

      Das stimmte, denn während der ganzen Zeit waren die Kontroll-Monitore der Tiefgarage unbeobachtet geblieben – und allein das war das Ziel des unbekannten Fahrers gewesen.

      Der Überfall geschah schnell und brutal. Zwei bullige Gestalten mit schwarzen Sturmmasken hatten sich Seligmann und Götze lautlos von hinten genähert. Einer der beiden trat Götze in die Kniekehlen, der so überrumpelt war, dass er den Schmerz kaum spürte und machtlos auf die Knie sank, wo ihm sein geübter Angreifer mit voller Wucht von hinten in das Kreuz trat. Götze kippte wie ein Sack nach vorne und knallte mit der Stirn auf den Betonboden.

      Seligmann hatte gerade per Funkschlüssel die Türen des schwarzen Mercedes entriegelt und den Überfall zunächst überhaupt nicht mitbekommen.

      Aus


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