Turmschatten. Peter Grandl
schnippte seinen Personalausweis über den Tisch, der auf ihrer Akte landete, sich dort überschlug und beinahe vom Tisch geflogen wäre, hätte ihn Marie nicht mit einer raschen Handbewegung aufgefangen.
Karl grinste sie an, wurde aber etwas verlegen, als ihr Blick streng auf dem SS-Abzeichen ruhte.
»Sorry, hatte ich ganz vergessen.« Er legte die Hand darüber. »Ist ein Geschenk gewesen. Kommt nicht wieder vor.«
»Ja, kommt nicht wieder vor, denn Sie geben mir augenblicklich dieses abscheuliche Ding, oder unser Treffen ist beendet.«
Ihr Blick blieb dabei kalt und hart.
»Ist nicht Ihr Ernst, oder?«
Karl hielt dem Blick stand.
Marie wartete ein paar Sekunden, dann beendete sie den unsichtbaren Kampf, schloss die Akte mit einem lauten Knall und machte Anstalten zu gehen.
»Hey! Was wird das? Ist doch nur ein Stück Metall.«
Langsam stand sie auf und nahm ihre Jacke von der Lehne.
»Ich pack das Ding weg, kommen Sie …«
Marie schlüpfte in ihre Lederjacke, ohne einen Ton zu sagen.
»Okay, okay! Sie wollen das Scheißding, Sie kriegen es. Hier!«
Wütend riss er die Plakette vom Geldbeutel und schleuderte sie über den Tisch. Diesmal hinderte Marie das Teil nicht daran, auf den Boden zu scheppern, wo es unbeachtet liegenblieb.
Langsam zog sie ihre Lederjacke wieder aus und setzte sich.
»Es gibt ein paar Grundregeln hier und eine ist: Sie werden keine Straftaten mehr begehen. Die offene Zurschaustellung von Hakenkreuzen und SS-Abzeichen ist aber eine Straftat.«
Karl stand ruckartig auf und zog wütend seine Jacke aus, so dass Marie es kurz mit der Angst zu tun bekam und unweigerlich an ihren im Koma liegenden Vorgänger denken musste.
»Was für ein Scheiß. Und was ist damit?«
Er warf seine Jacke auf den Boden und reckte ihr mit geballten Fäusten seine beiden Unterarme hin, auf denen die SS-Runen und die Zahl 88 tätowiert war – 88 für »HH«.
»Soll ich mir die Haut abziehen lassen, bloß weil Sie ein Problem damit haben?«
Maries Puls war deutlich schneller geworden, aber sie versuchte nach außen weiterhin ganz ruhig zu wirken.
»Setzen Sie sich!«
Karl schluckte seine Wut hinunter, biss die Zähne aufeinander und grinste sie wieder an. Dann setzte er sich und verschränkte die Hände, indem er sich nach vorne beugte und sich auf die Unterarme lehnte. Es hatte fast den Anschein, als würde er beten.
Marie klappte die Akte wieder auf und verglich den Ausweis mit den Daten in der Mappe.
»Stresemann, ist das jiddisch?«, durchbrach Karl die Stille. Irritiert sah sie ihn an.
»Wie bitte?«
»Ist doch eine ganz simple Frage, oder. Ist das jiddisch? Ihr Nachname?«
»Am besten Sie googeln, ich weiß es nicht«, log Marie und versuchte, sich wieder der Akte zuzuwenden, aber Karl ließ nicht locker.
»Sie wissen nicht, ob Sie jüdisch sind?«
Wieder blickte sie nach oben.
»Sie werden es nicht glauben, aber nicht alle Menschen machen um ihre Abstammung so ein Aufhebens wie Sie und Ihre sogenannten Kameraden.«
Sie hatte den letzten Zahlenabgleich endlich beendet, schob ihm den Ausweis wieder zu und machte mit einem Stift noch eine Notiz, dann stellte sie klar: »Herr Rieger, ich bin nicht Ihre Sozialhelferin oder Ihre Kummertante. Mein Job ist es, Sie mit den mir zur Verfügung stehenden Mitteln wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Mein Job ist es außerdem zu beurteilen, ob das möglich ist. Das geht nicht ohne Ihre Hilfe. Wenn wir beide also versagen, weist man mir nur einen neuen Fall zu, Sie aber wandern wieder ins Gefängnis. War das deutlich genug für Sie?«
Karl nickte, nahm seinen Ausweis und die Visitenkarte, die immer noch vor ihm lag, und verstaute beides in seinem lädierten Geldbeutel.
»Sie müssen tun, was Sie tun müssen. Und ich muss tun, was ich tun muss.«
Marie Stresemann klopfte nervös mit ihrem Stift auf die Tischplatte.
»Zunächst müssen Sie sich vor allem von Ihren rechten Kameraden fern halten. Bereits der fernmündliche Kontakt …«
Karl lachte abfällig. »Der was?«
»Ein Telefonat. Bereits ein Telefonat mit Zugehörigen zur rechtsradikalen Szene wäre ein schwerer Verstoß gegen Ihre Bewährungsauflagen und …«
»Ich kenne meine Bewährungsauflagen, also können wir das nicht abkürzen?«
Marie Stresemann versuchte weiterhin entspannt zu wirken und lehnte sich langsam zurück.
»Wir brauchen einen Job für Sie. In Ihren Akten steht, Sie haben Abitur und danach sechs Semester Geschichte studiert. Während der Zeit haben Sie Ihr Geld als Taxifahrer verdient. Wäre das nichts für den Anfang?«
»Kein Problem, aber ich fahre keine Türken, Homos und Juden. Den Gestank bekommt man so schwer aus dem Wagen«, provozierte er und grinste ihr ins Gesicht.
Das reichte. Marie war kurz davor, aus der Haut zu fahren. Eine saftige Ohrfeige war das Mindeste, wonach ihr der Sinn stand. Aber sie hatte sich im Griff, wollte nicht schon beim allerersten Gespräch versagen und legte sich eine passende Antwort zurecht, als die Tür zum Besprechungsraum aufgerissen wurde.
Murat Demir stürzte sich wie ein Berserker auf Karl Rieger, riss ihn mit seinen kräftigen Pranken vom Stuhl hoch und presste ihn an die Wand. Das alles ging so schnell, dass Marie nicht die geringste Chance hatte einzugreifen.
»Jetzt hör mir mal ganz genau zu, du braunes Stück Scheiße«, schrie Murat dem Neonazi ins Gesicht, dem der Schreck in die Knochen gefahren war. »Noch eine solche Bemerkung und …«
Marie sprang auf und eilte um den Tisch herum.
»Hören Sie auf! Hören Sie sofort auf damit!«
Aber Murat ignorierte sie.
»… und ich schwöre dir, du bekommst direkt ein Blaulichttaxi von hier zurück in den Knast.«
»Lassen Sie ihn auf der Stelle los. Auf der Stelle!«, schrie sie Murat an.
Endlich ließ Murat von Karl ab, blieb aber ganz nah vor ihm stehen und starrte ihm in die Augen. Karl hatte sich mittlerweile gefasst.
»Rüzgâr eken fırtına biçer«, sagte Rieger ganz ruhig.
Noch bevor Murat etwas erwidern konnte, schob sich Marie zwischen die beiden Kontrahenten und drückte sie auseinander.
»Schluss jetzt!« Sie wandte sich Murat zu. »Sie verlassen auf der Stelle diesen Raum.«
Doch Murat war noch nicht fertig mit Karl Rieger.
»Du hältst dich wohl für ganz schlau, aber von jetzt an häng ich dir wie eine Klette am Arsch. Hörst du …«
Für eine so zierliche Frau hatte Marie Stresemann erstaunlich viel Kraft und schob Murat Demir langsam auf die offene Tür zu.
Murat hob dabei beide Hände, als würde er sich ergeben, während er rückwärts auf den Gang hinausgedrängt wurde.
»Ich gehe. Ich gehe ja schon. Ich bin ganz ruhig, alles okay. Alles okay, aber Sie sollten diesem Nazi klarmachen, wer hier die Hosen anhat.«
Die beiden waren inzwischen im Flur angekommen. Maries Ton war ruhiger geworden.
»Sie sind mir ein großes Vorbild. Toll, wie Sie das eben gemacht haben, wirklich. Ich wünschte, ich hätte Ihre Erfahrung. Ganz große Klasse!«, sagte sie sarkastisch, und ihre Augen funkelten wütend.