Der Nicht-tot-Mord. Lena M. Grimm

Der Nicht-tot-Mord - Lena M. Grimm


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stand der Inspector vor dem großen Eisentor. Es war über drei Meter hoch und wurde von zwei großen, steinernen Löwen bewacht. Er drückte die Klinke hinunter und rüttelte daran. Verschlossen. Er sah sich nach einer Klingel um. Als er keine entdeckte, war er schon kurz davor, wieder umzudrehen und ins Dorf zurückzukehren, doch mit einem Mal hörte er eine Stimme hinter sich.

      „Verzeihung, sind Sie Inspector Clarkson?“

      „Der bin ich.“

      „Bitte entschuldigen Sie, dass Sie warten mussten, aber im ganzen Haus herrscht ein einziges Chaos, alle sind in heller Aufregung. Ich habe sie kontaktiert. Charles Sawlt, der Verwalter. Bitte“, der Mann zog einen Schlüssel aus der Tasche und drehte ihn im Schloss herum, „folgen Sie mir.“ Charles Sawlt war ein älterer Herr mit schütterem Haar, aber wachen, lebendigen Augen. Er erinnerte Inspector Jonathan Clarkson an seinen Mathelehrer aus der dritten Klasse.

      Gemeinsam liefen die beiden über einen Kiesweg ein Stück den Hügel hinauf. Als sie oben angelangt waren, standen sie vor einem imposanten Herrenhaus. Das Eingangsportal war aus massivem Holz, vermutlich Eiche, und mit zwei mächtigen Türklopfern ausgestattet. Sie waren fast so groß wie Suppenteller.

      „Mr Sawlt, können Sie mir eventuell Genaueres über den Vorfall berichten?“, fragte Jonathan, nachdem der andere Mann einen der beeindruckenden Türklopfer betätigt hatte.

      „Heute Morgen fand Miss Dunham die junge Lady Julia reglos in ihrem Bett. Sie versuchte, sie aufzuwecken, doch vergebens. Sie kontaktierte mich umgehend und ich habe meinerseits probiert, die Lady aufzuwecken. Auch mir gelang es nicht. Als Letztes kippten wir der jungen Lady eine Schale Wasser ins Gesicht. Als dies ebenfalls nichts bewirkte, entschloss ich mich, ihre Eltern zu alarmieren. Und anschließend kontaktierte ich Sie.“

      Die Tür wurde von innen geöffnet. Ein junges Mädchen, vielleicht zwölf Jahre alt, lugte vorsichtig durch den Spalt. „Mr Sawlt, Sir, Lady Julia ist noch nicht aufgewacht. Sir.“ Vermutlich war die Kleine noch nicht lange hier. Ihr Kleid war zu groß und ihr Gesicht war vor Schreck ganz bleich. Jonathan vermutete, dass es eigentlich gar nicht ihre Aufgabe war, die Tür zu öffnen. Wahrscheinlich war sie eine Küchenhilfe. Aber er wusste aus Erfahrung, dass bei solchen Vorkommnissen alles drunter und drüber ging. Hastig steckte das Mädchen eine Strähne rotes Haar unter sein Häubchen, das ein wenig verrutscht war.

      „Danke, Katie, das ist Inspector Clarkson, er wird den Vorfall untersuchen und baldmöglichst aufklären. Sei so lieb und sag Mrs Bright, sie soll uns eine Tasse Tee und einen kleinen Imbiss zubereiten.“

      Das Mädchen, Katie, knickste unbeholfen und ging schnurstracks auf eine fast unscheinbare Tür zu, die vermutlich nach unten in die Küche führte.

      „Inspector, ich werde mich auf die Suche nach der Familie machen“, verkündete der Verwalter.

      Nun hatte Jonathan Zeit, den Eingangsbereich des vornehmen Gutshauses genauer zu betrachten. Hinter ihm befand sich die Tür, durch die sie eingetreten waren. Ein paar Stufen führten nach unten in die Eingangshalle. Sie war riesig, erstreckte sich vermutlich über die gesamte Breite des Hauses. An den Wänden waren hohe Bogenfenster mit schweren roten Samtvorhängen, die zurückgezogen waren, damit das Tageslicht ungehindert hindurchfallen konnte. Am Ende des Raums war eine große Treppe, die sich auf halber Höhe teilte und dann in den Nord-beziehungsweise Südflügel führte. Auf der linken Seite gab es einige Terrassentüren.

      Clarkson lief die Stufen nach unten. Seine Schritte hallten im ganzen Saal wider. Hier hatten gut und gerne 300 Personen Platz.

      „Inspector, die Herrschaften erwarten Sie in der Bibliothek.“ Charles Sawlt war zurückgekehrt und winkte ihn die Treppe nach oben in den Südflügel.

      Sie liefen Stufen hinauf und hinab, bogen nach rechts und nach links ab, gingen durch Türen und durchquerten ganze Räume. Es war das reinste Labyrinth. Der Erbauer hatte wohl keinen Sinn für Logik gehabt. Es kam Jonathan so vor, als ob sie bereits durch zehn verschiedene Häuser gewandert wären. Sawlt schien es nichts auszumachen. Wahrscheinlich kannte er dieses Wirrwarr besser als sich selbst.

      Sie standen gerade neben dem riesigen Gemälde eines ehemaligen Berrington (er war furchtbar dick gewesen und posierte neben einem Tisch mit einer Ananas und einem ausgestopften Fasan darauf, und sein Schnurrbart reichte von einem Ohr bis zum anderen), als der Inspector Musik hörte. Sie stammte von einer Harfe, eine hübsche Melodie, allerdings sehr ermüdend. Es war die Sorte von Lied, die man kleinen Kindern vorspielte, damit sie einschliefen.

      Charles Sawlt klopfte an eine kunstvoll geschnitzte Tür und sie traten ein. Der Raum dahinter erstreckte sich über zwei Stockwerke. Die Wände waren voller Bücherregale und durch die hohe Fensterfront strömte Sonnenlicht, was dem Raum eine angenehme Temperatur verschaffte. Die Harfenmusik erklang aus der rechten Ecke des Saales. Ein Mädchen, etwa 18 Jahre alt mit blondem, kunstvoll hochgestecktem Haar, saß direkt vor der Fensterfront und spielte sie. Es trug ein prächtiges eisblaues Kleid, das mit weißen Rosen bestickt war, und war wirklich hübsch.

      Vor dem Kamin am gegenüberliegenden Raumende saßen ein Mann, vermutlich Lord Berrington, und eine sehr blass aussehende Frau, schätzungsweise Lady Berrington. Er hielt ihre Hand. Obwohl Clarkson fast 50 Meter entfernt war, konnte er erkennen, dass Lady Berrington am ganzen Körper zitterte wie Espenlaub.

      „Lord und Lady Berrington, Miss Helena, dies ist Inspector Jonathan Clarkson. Inspector, dies sind Lady Mary Elizabeth Berrington, Lord George Berrington und ihre älteste Tochter, Miss Helena Joanna Berrington.“

      „Sehr erfreut, Lord und Lady Berrington“, Clarkson deutete eine Verbeugung in ihre Richtung an, „Miss Helena, ebenfalls sehr erfreut.“

      Doch Letztere schien ihn gar nicht bemerkt zu haben, sie war offenbar zu vertieft in ihr Musikspiel.

      „Bitte entschuldigen Sie, sie spielt immer, wenn sie aufgebracht ist“, entschuldigte sich Lord Berrington für seine Tochter.

      „Nun, ich denke, wir sollten keine Zeit verschwenden. Ich weiß, es ist schwer, aber schildern Sie mir doch bitte den Vorfall.“ Clarkson lief in Richtung des lodernden Kaminfeuers und nahm gegenüber Lord und Lady Berrington Platz.

      „Inspector, bitte entschuldigen Sie, aber meine Frau fühlt sich momentan kaum imstande, eine Aussage zu tätigen. Uns alle hat das sehr hart getroffen.“

      „Selbstverständlich, Lord Berrington. Wenn sich ihre Ladyschaft nicht wohlfühlt, steht es ihr natürlich frei, sich zu entfernen.“

      Lady Berrington stand von ihrem Mann gestützt auf. „Inspector, ich bitte Sie, klären Sie diesen Albtraum so schnell wie möglich auf“, bat sie ihn noch, ehe sie den Arm ergriff, den ihr Charles Sawlt anbot, und mit ihm durch eine Tür neben dem Kamin verschwand. Ihre Tochter schien von alledem nichts mitzubekommen, sie zupfte immer noch hingebungsvoll die Saiten ihrer Harfe.

      „Nun, Lord Berrington, schildern Sie doch bitte den Vorfall, wie Sie ihn erlebt haben“, bat Jonathan erneut.

      „Ich fürchte, Inspector, ich bin genauso ratlos wie Sie. Nun denn, heute Morgen, so gegen halb sieben, wurde ich von der sehr aufgebrachten Miss Dunham, Julias Amme, geweckt. Sie berichtete mir, dass meine Tochter nicht aufzuwecken wäre, selbst nachdem man ihr eine Schale Wasser über den Kopf gekippt hatte. Ich habe natürlich sofort meine Frau verständigt und wir haben uns selbst von dieser ungeheuerlichen Tatsache überzeugt. Meine Frau ist daraufhin zusammengebrochen und wir mussten sie auf die Couch im Nebenzimmer betten. Ich selbst habe ebenfalls versucht, meine Tochter aufzuwecken, allerdings vergebens. Inspector, Sie hätten sie sehen müssen, so blass und schlaff ... es war grausam. Mein Verwalter, Charles Sawlt, Sie haben ihn ja bereits kennen gelernt, schrieb Ihnen umgehend. Wir haben sofort einen Boten zu Ihnen geschickt.“

      „Wissen Sie, was merkwürdig ist?“, fiel Jonathan auf. Lord Berrington sah ihn verwirrt an und schüttelte den Kopf. „Ihre Frau kann sich kaum auf den Beinen halten und Sie wirken im Gegensatz dazu sehr ... entspannt. Das soll keine Anschuldigung sein, es ist mir nur aufgefallen.“

      „Ich


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