Der Nicht-tot-Mord. Lena M. Grimm

Der Nicht-tot-Mord - Lena M. Grimm


Скачать книгу
jetzt müssen wir 100 Jahre warten, bis sie aufwacht?“ Der Kommentar mochte unangemessen sein, aber Clarkson fühlte sich mit der Situation etwas überfordert, weshalb ihm die Worte herausrutschten.

      „Ein Wunder, dass du in dieser Lage noch scherzen kannst. Ich habe schon oft beobachten können, wie angebliche Tote wiedererwacht sind. In solch einem Fall sind die Opfer nicht wirklich tot gewesen, sie befanden sich lediglich in einem komatösen Zustand.“

      „Und wie wird so ein Zustand ausgelöst?“ Clarkson war verwirrt. So etwas hatte er in seiner gesamten Laufbahn noch nie erlebt. Gemeinschaftsmorde oder dass ein Opfer aus Versehen von zwei Tätern umgebracht wurde, aber so etwas? Nein, das war definitiv neu im Programm.

      „Es gibt da verschiedene Möglichkeiten. Die häufigste Ursache für einen solchen komatösen Zustand ist eine schwere Kopfverletzung. Dies können wir jedoch ausschließen, da ich keinerlei Wunden sehe, weder am Kopf noch an den Armen, dem Rücken oder sonst irgendwo.

      Der Wahrscheinlichkeit folgend wäre da noch die Möglichkeit einer Krankheit, meistens eines Tumors. Das kann ich so allerdings weder bestätigen noch ausschließen, weil ich dafür ein Röntgengerät benötige. Eine fantastische Erfindung. Nicht so häufig, allerdings öfter als vermutet, kommt es vor, dass der Patient ins Koma fällt, weil er traumatisierende Situationen erlebt hat.“

      „Nun, ich denke, das lässt sich schnell herausfinden. Miss Dunham, wären Sie uns noch einmal behilflich?“, wandte sich Jonathan an die Amme, die beflissen nickte. „Sagen Sie, ist Ihnen Miss Julia in der letzten Zeit verändert vorgekommen? War sie verschreckt, ängstlich?“

      „Nein, da fällt mir nichts Konkretes ein. Oh doch! Während der Weihnachtsfeiertage, genauer gesagt am 26. Dezember, brannte der halbe Pferdestall ab. Der Weihnachtsbaum, der draußen stand, hatte wegen all der Kerzen Feuer gefangen, fiel um und direkt auf den Stall. Miss Julia war sehr aufgewühlt, da ihr Pferd Dreamdancer ebenfalls darin stand. Oder besser gesagt, es hätte dort stehen sollen, der Satansbraten war am Nachmittag ausgebüxt und niemand hatte es bemerkt. Die Familie war im Haus, um mit der angereisten Verwandtschaft zu feiern, das Personal hatte alle Hände voll zu tun.

      Erst als Lady Berringtons Schwester, Lady Higgins, auf die Terrasse ging, um eine Zigarette zu rauchen, bemerkte man das Feuer. Man konnte es löschen, keines der Tiere wurde verletzt, die meisten waren vor die Schlitten gespannt worden, denn es sollte eigentlich ein Ausflug damit stattfinden. Auf jeden Fall war Lady Julia sehr verstört aus Angst um den Teufelsbraten, doch eine Familie fand ihn auf ihrem Spaziergang.

      Als Dreamdancer wieder da war, schien es Miss Julia eigentlich wieder gut zu gehen, doch selbstverständlich hinterlässt so ein Schreck seine Spuren. Merkwürdig war, dass Miss Julia mich bat, hier in ihrem Zimmer kein Feuer mehr zu machen, wenn sie zugegen war. Vermutlich war sie einfach noch etwas verstört und ängstlich.“

      Unglaublich, Miss Dunham hatte diesen Monolog gehalten, ohne einmal Luft zu holen. Sie musste nicht mal jetzt nach Luft schnappen, wie jeder andere es getan hätte. Bemerkenswert.

      „Miss Dunham, wären Sie so gut und suchen schnell den Vater des Mädchens?“, bat Isaac Drew. „Ich muss noch etwas mit ihm besprechen.“

      „Natürlich, warten Sie ein paar Minuten.“ Schon war die Frau aus der Tür gehuscht. Ziemlich flink für eine etwas ältere, füllige Dame.

      Isaac nutzte die Zeit, um seine Instrumente einzupacken, und Jonathan sah sich noch einmal im Zimmer um. Er betrachtete die Bücherregale, in denen ziemlich dicke Wälzer standen, vor allem von Shakespeare. Eines der Regale war voll mit Notenblättern und neben dem Klavierhocker stapelten sich zwei weitere Türmchen davon. Clarkson nahm das aktuelle Notenblatt, das sich in der Halterung über den Klaviertasten befand. Es war eines seiner Lieblingsstücke. Von fremden Ländern und Menschen aus Schumanns Kinderszenen. Auf einem der Türmchen lag der Rest der dazugehörigen Noten.

      „Inspector, Professor, Lord Berrington.“ Miss Dunham war mit dem Hausherrn in das Zimmer zurückgekehrt.

      „Lord Berrington, ich hätte noch etwas mit Ihnen zu besprechen“, sagte Drew.

      „Dann mal raus mit der Sprache, Professor“, ermutigte ihn Lord Berrington.

      „Als Erstes können wir Ihnen eine gute Nachricht überbringen: Während der Untersuchung habe ich festgestellt, dass Ihre Tochter gar nicht verstorben ist. Sie befindet sich lediglich in einem komatösen Zustand. Es gibt verschiedene Ursachen für so etwas, die häufigste ist eine Kopf-oder Rückenverletzung, das konnte ich jedoch schnell ausschließen. Es gibt außerdem die Möglichkeit einer Erkrankung, dies kann ich allerdings nur herausfinden, wenn ich Ihre Tochter mit einem Röntgengerät untersuche. Dafür müsste ich Lady Julia mit nach London nehmen.“

      Lord Berrington hatte sich, während Isaac ihm erklärt hatte, dass seine Tochter gar nicht tot wäre, auf die Bettkante fallen lassen. „Sie meinen ... sie lebt noch? Wird sie denn wieder aufwachen?“

      „Um das festzustellen, muss ich die Röntgenuntersuchung machen. Wenn die Ursache gefunden wird, können wir sie behandeln und die Wahrscheinlichkeit, dass sie wieder aufwacht, ist hoch. Vorausgesetzt, eine Erkrankung ist die Ursache.“

      Miss Dunham hatte sich ebenfalls gesetzt, allerdings auf den Stuhl am Schreibtisch. „Und sie kann wirklich wieder aufwachen, Professor?“, fragte sie mit tränenerstickter Stimme.

      „Wie gesagt, wenn wir die Ursache mithilfe des Röntgenbilds finden, ist es möglich.“

      „Können wir denn irgendetwas tun, um Miss Julia zu helfen?“, fragte die Amme hoffnungsvoll.

      „Das ist schwer zu sagen, es kommt vor, dass Patienten beim Klang einer bestimmten Musik oder Ähnlichem aufwachen. Dass es funktioniert, kann ich Ihnen nicht versprechen. Nun da wir wissen, dass ihr Herz noch schlägt, müssen wir sie ernähren. Ich schlage vor, Sie, Miss Dunham, flößen ihr regelmäßig etwas Wasser oder Suppe ein und sie bekommt mehrmals täglich eine Injektion mit einer Zuckerlösung. Wenn Sie möchten, zeige ich Ihnen den Umgang mit der Spritze, dann können Sie das selbst erledigen.“

      „Natürlich, Professor, ich werde selbstverständlich alles tun.“ Miss Dunham stand voller Tatendrang auf. Ihre Wangen waren rosig vor Freude. „Ich werde gleich Wasser holen.“ Wie ein Wirbelwind war sie schon aus der Tür gestürmt.

      Lord Berrington schien es immer noch nicht fassen zu können. Als er zu sich zurückfand, sprang er ebenfalls auf. „Professor, natürlich werden Sie die Röntgenuntersuchung machen. Ich werde sofort einen Wagen vorbereiten lassen.“ Und mit diesen Worten fegte auch er aus dem Zimmer.

      Jonathan und Isaac blieben allein zurück.

      „Ich fürchte, ich werde gleich nach London aufbrechen müssen. Eventuell muss ich über Nacht bleiben, wir werden sehen. Ich hoffe sehr, dass wir die Ursache für ihren Zustand finden können, das arme Mädchen. Vielleicht wacht sie sogar so wieder auf, das gab es auch schon“, teilte Isaac seinem Freund mit. Just in diesem Moment kam Miss Dunham mit einem Krug Wasser und einer flachen Schale wieder herein. „Professor, wenn Sie mir das mit dem Wasser zeigen würden, mache ich das gleich mal.“

      „Natürlich, Miss Dunham. Das arme Mädchen hat seit Stunden keine Flüssigkeit zu sich genommen. Warten Sie, ich zeige Ihnen, wie es am einfachsten geht.“ Drew lief zum Bett zurück, nahm die Schale und füllte sie mit Wasser. Anschließend flößte er der reglosen Julia die Flüssigkeit geschickt ein. „Nehmen Sie nicht zu viel Wasser auf einmal. Anschließend ist es gut, wenn Sie den Oberkörper leicht aufrichten, dann kann die Flüssigkeit in den Magen laufen. Und halten Sie ihr dabei den Mund zu, sonst fließt alles wieder heraus. So, versuchen Sie es einmal.“

      Während die beiden der jungen Lady Wasser einflößten, dachte Jonathan über die Ursache für den Dornröschenschlaf, wie Isaac es genannt hatte, nach. Er konnte nicht glauben, dass es eine natürliche war. Er hätte schwören können, dass sein rechtes Ohrläppchen gekribbelt hatte, als er den Brief von Charles Sawlt las. Und sein Ohrläppchen kribbelte nur, wenn es einen Mord gab. Oder vielleicht hatte er sich das auch


Скачать книгу