Der Nicht-tot-Mord. Lena M. Grimm
dass er nicht weiter an dem Fall arbeitete, schließlich war ein junges Mädchen involviert. Doch er hatte das unbestimmte Gefühl, dass die einzelnen Puzzleteile bald wunderbar zusammenpassen würden. Außerdem konnte er im Moment sowieso nichts tun, er musste auf die Ergebnisse der medizinischen Untersuchungen warten.
Da fiel ihm ein, dass er ein Beweismittel besaß, das seiner Aufmerksamkeit bedurfte. Er zog sich Mantel und Hut an und nahm denselben Weg wie bereits zweimal an diesem Tag. Doch als er zu der Brücke kam, überquerte er sie nicht, sondern wandte sich fünf Schritte nach rechts. Dort hatte er am Morgen eine kleine, blau lackierte Holzbank entdeckt. Er ließ sich darauf nieder und freute sich, dass der Schnee sich schon vor einer Woche komplett verabschiedet hatte. Dann griff er in die Innentasche seines Mantels und entnahm ihr Julia Berringtons Tagebuch. Er schlug es auf der zweiten Seite auf, denn den ersten Eintrag hatte er schon gelesen.
2. Januar 1901
Der Ausritt mit Daddy ist leider ins Wasser gefallen. Es gab einen Notfall, worum es ging, hat man mir nicht sagen wollen. Daddy musste ganz dringend in die Stadt, er hat mir aber versprochen, dass wir am Samstag ausreiten werden. Da ich mir den Tag extra dafür freigehalten habe, war mir ziemlich langweilig. Schließlich habe ich ein bisschen Klavier gespielt und etwas gelesen.
Jonathan Clarkson überflog die nächsten paar Einträge. Es war nichts dabei, was seine Aufmerksamkeit erregte. Hauptsächlich handelte es sich um Geschichten über Julias Pferd Dreamdancer, neue Klavierstücke oder etwas Lustiges, das beim Abendessen passiert war. Als er hochblickte, bemerkte er, dass es bereits dämmerte. Er musste sich beeilen, wenn er nicht in völliger Dunkelheit zurückgehen wollte.
Jonathan schaffte es kurz vor Einbruch der Dunkelheit, in sein behagliches Zimmer im ersten Stock zurückzukehren.
Am nächsten Morgen weckte ihn Betty pünktlich um halb neun. „Inspector, ich werde Ihnen Ihr Frühstück wie immer nach oben bringen.“
Einem plötzlichen Impuls folgend, hielt er sie auf. „Betty, ich glaube, ich möchte heute im Speisesaal frühstücken. Wäre das möglich?“
Sie sah Jonathan überrascht an. Normalerweise nahm er sein Frühstück nur an Weihnachten, anderen Feiertagen und seinem Geburtstag im Saal ein. Doch sie erwiderte: „Natürlich, Inspector, gar kein Problem.“ Schnell hatte sie sich wieder gefasst.
Der Inspector wohnte schon seit mehr als zwei Jahren in ihrer Unterkunft und war bekannt für seine merkwürdigen Eigenheiten und Launen. Aber im Nachhinein ergaben sie immer irgendeinen Sinn. Also schloss Betty die Tür hinter sich und machte sich auf den Weg nach unten, um das Frühstück vorzubereiten.
Als Clarkson im Speisesaal eintraf, lag ein Brief auf seinem Teller. Er beschleunigte seine Schritte und setzte sich. „Betty, wann kam dieser Brief an?“
Die Wirtin streckte ihren Kopf herein. „Ich weiß nicht genau, Inspector, der lag heute Morgen bei der übrigen Post.“
Clarkson erkannte die geschwungene Handschrift. Er öffnete das Kuvert mit seinem Buttermesser, denn einen Brieföffner hatte er nicht bei sich. Warum auch?
Hastig überflog er die Zeilen und stützte seinen Kopf auf seine Hände. Genau das hatte er befürchtet.
Betty, die mit einem Brotkorb hereinkam, setzte sich ihm gegenüber. „Inspector, was ist denn los mit Ihnen? Schlechte Nachrichten? Oh nein, es ist hoffentlich niemand gestorben? Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“
Nun konnte er die Frau nicht mehr abwimmeln. Jemand, der sich mit einer solchen Fürsorge kümmerte, hatte es nicht verdient, ständig zu hören: „Sie wissen doch, ich darf Ihnen nichts sagen.“
Betty ließ ihn seit über zwei Jahren im Gasthaus wohnen, hatte alle seine Angewohnheiten akzeptiert und war nie komisch geworden, weil er sein Geld damit verdiente, Leichen zu begutachten und Mörder zu stellen. Außerdem wollte er loswerden, was er soeben erfahren hatte, und vielleicht hatte Betty eine Idee.
„Bitte behandeln Sie das, was ich Ihnen jetzt sagen werde, mit äußerster Sorgfalt“, stimmte er sie auf das Folgende ein.
„Natürlich, kein Wort wird meine Lippen verlassen“, versprach sie aufgeregt.
„Nun, wie Sie wissen, wurde ich nach Sutherten gerufen. Es ging um Lady Julia, die am Morgen einfach nicht aufwachen wollte. Ich habe also meinen guten Freund Isaac Drew kontaktiert, der feststellte, dass Julia gar nicht tot ist, wie bisher angenommen, sondern nur, wie er es nannte, in einen Dornröschenschlaf gefallen war. Er hat Miss Julia und ihre Amme daraufhin mit nach London genommen, um durch einige Untersuchungen herauszufinden, was die Ursache für diesen komatösen Zustand ist. Er hat Röntgenuntersuchungen gemacht und mich über das Ergebnis in diesem Brief informiert. Es war nichts festzustellen, keine Erkrankung, nichts. Uns gehen langsam die Möglichkeiten aus, die Miss Julias Zustand erklären könnten. Ihr Vater wird alles andere als erfreut sein, wenn ich ihm gleich mitteilen muss, dass wir bis jetzt nichts gefunden haben und deshalb auch nichts unternehmen können, um seine Tochter ins Leben zurückzuholen.“
Bettys Augen waren während Clarksons Monolog immer größer geworden. Es dauerte einige Minuten, bis sie sich wieder gefangen hatte. „Sie meinen, Lady Julia befindet sich in einer Art Starre? Wie Tiere im Winter?“
„Das trifft es ganz gut, ja.“
„Und was könnte die hervorgerufen haben?“
„Wie gesagt, eine Erkrankung wäre das Wahrscheinlichste gewesen. Aber das konnte Isaac ausschließen. Mein nächster Verdacht wäre eine traumatische Erfahrung. Miss Julia wurde als kleines Mädchen aus einem Feuer gerettet und vor einigen Wochen brannte auf Sutherten der Pferdestall. Allerdings machte sie anschließend auf alle einen recht guten Eindruck, sie war nur etwas ängstlicher in Bezug auf Feuer geworden, was allerdings eine normale Reaktion ist. Die letzte mögliche Ursache, die ein solches Koma herbeiführen kann, ist eine Kopfverletzung. Allerdings ist die Lady vollkommen unversehrt.“
Betty hatte den Ausführungen des Inspectors aufmerksam zugehört. „Was kann es denn dann sein, wenn alle Möglichkeiten ausgeschlossen wurden?“ Plötzlich schlug sie sich die Hand vor den Mund und schnappte nach Luft.
„Betty, ist alles in Ordnung?“ Besorgt musterte Jonathan seine Wirtin. Diese nickte, immer noch erschüttert. „Ja, Inspector, mir ist nur eine weitere Möglichkeit eingefallen. Was ist, wenn jemand die Lady verhext hat? Mit Schwarzer Magie den Teufel heraufbeschworen hat?“
Spöttisch zog Clarkson seine Augenbraue nach oben. „Hexerei?“
Sie nickte heftig. „Ja, erst vor einigen Wochen habe ich in der Zeitung von einer Frau gelesen, die vom Teufel besessen war. Sie hat fantasiert, lief wirr durch ihr Haus und hat gegessen wie ein wildes Tier.“
Jonathan hatte ebenfalls von der Frau gehört. Er hatte sich sogar mit Isaac darüber unterhalten, der mit einem Augenzwinkern vermutet hatte, dass die Dame im Wald wohl die falschen Pilze gesammelt hatte.
„Betty, ich fürchte, ich muss Ihnen Ihre Hoffnungen nehmen. Hexerei kann bei dem Stand, auf dem sich die heutige Wissenschaft befindet, ausgeschlossen werden. Es tut mir leid, aber Hexen gibt es nicht. Oder haben Sie schon mal eine gesichtet?“
Betty rollte mit ihren Kulleraugen. „Nur weil wir die Magie nicht sehen können, heißt es nicht, dass sie nicht existiert. Und Ihre Wissenschaft wusste vor ein paar Jahren noch nicht mal, dass die Erde eine Kugel ist. Da dachten alle Menschen, sie sei eine Scheibe. Und das hat die damalige Wissenschaft sogar bewiesen.“
Diese Worte machten Clarkson ein wenig nachdenklich. Er trank seinen Tee aus und beendete sein Frühstück. „Betty, ich werde jetzt wohl oder übel zu Lord Berrington gehen müssen und ihn über die jüngsten Erkenntnisse informieren. Wünschen Sie mir Glück, dass ich hinterher meinen Kopf noch auf den Schultern und nicht unter meinem Arm trage.“ Er zog sich seinen Mantel an und winkte Betty zum Abschied zu.
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Kapitel 5
„Was