Der Nicht-tot-Mord. Lena M. Grimm
es in diesem Fall vor zu lügen. Oder eher, die Wahrheit etwas abzuwandeln. Er wusste, dass sich das nicht gehörte, aber er hatte vor, noch etwas länger zu leben.
„Und was sind das für Möglichkeiten? Soll ich meine Tochter noch mehr Untersuchungen aussetzen? Inspector, ich glaube, Sie verstehen den Ernst der Lage nicht. Meine arme Frau wird von Tag zu Tag schwächer, wer weiß, ob sie das Ganze überhaupt überleben wird.“
Clarkson musste es sich verkneifen, Lord Berrington darauf aufmerksam zu machen, dass Miss Julia sowieso nichts mitbekäme. Sie war in einem Traumland und hatte keinen blassen Schimmer, was für einen Wirbel sie ausgelöst hatte. „Lord Berrington, ich versichere Ihnen, wir werden Ihre Tochter gesund machen.“
„Das will ich hoffen, denn wenn nicht, werde ich Sie bei lebendigem Leib begraben lassen!“ Damit stürmte Lord Berrington aus dem Zimmer. Inständig hoffte Clarkson, dass er sich diesmal einen Schluck mehr Melissengeist genehmigen würde.
Es war mittlerweile fast elf Uhr und der Weg ins Dorf dauerte etwa 45 Minuten, wenn er sich beeilte. Mit dem Auto gestern war es natürlich sehr viel schneller gegangen, sie hatten nur etwa 20 Minuten benötigt.
Lord Berrington hatte Clarkson fast eine Stunde lang angebrüllt, obwohl ihn überhaupt keine Schuld traf. Der Adelige gehörte allerdings zu der Sorte Mensch, die immer einen Schuldigen brauchte. Jonathan war es gewöhnt, zum Sündenbock gemacht zu werden. Das brachte sein Beruf mit sich. Lord Berrington war mit ihm in eines der vielen Teezimmer gegangen. Dieses lag nicht weit von der großen Treppe entfernt, er würde den Weg nach draußen also ohne Probleme finden können. Als er gerade die Treppe erreichte, hörte er eine laute, penetrante Frauenstimme, die ihm einen kalten Schauer über den Rücken jagte und dasselbe Gefühl in ihm auslöste wie eine Kreide, die quietschend über eine Tafel fuhr. Sie gehörte mit Sicherheit zu einer Frau, die den ganzen Tag nichts Besseres zu tun hatte, als literweise Tee zu trinken, über Miss Langweilig und Lady von Uninteressant zu tratschen und Flaschen von französischem Parfum in die Luft zu sprühen. Eine Dame aus der Stadt.
Jonathan stellte sich in den Schatten einer großen Vase, um zu beobachten, was im Eingangsbereich vor sich ging. Dort hatte sich eine ihm unbekannte Frau mit blondem Haar, das einen unverkennbaren Gelbstich aufwies, aufgebaut. Vermutlich hatte sie ihrer natürlichen Haarfarbe etwas auf die Sprünge helfen müssen, weil sie nicht mehr so wie vor 20 Jahren aussah. Er schätzte die Frau auf Anfang, Mitte 50. Sie trug ein Kleid von einem so scheußlichen Orange, dass es in den Augen schmerzte. Passend dazu hatte sie einen pinkfarbenen Hut und Handschuhe in derselben Farbe angezogen. Auf ihrem Arm saß ein winziges Hündchen, vermutlich noch ein Welpe. Und um sie herum standen sieben Koffer und zwei Reisetaschen.
„Oh, mein armer George, sofort als ich davon gehört habe, habe ich mich auf den Weg gemacht. Was für eine fürchterliche Tragödie, ich war außer mir vor Schreck. Die arme, kleine Tiffany hat daraufhin angefangen, sich zu übergeben, mein Baby, Mummy geht’s ja wieder gut ...“ Sie fing an, das winzige Hündchen, das anscheinend Tiffany hieß, ausgiebig zu knuddeln.
Was für ein scheußlicher Name für einen Hund. Andererseits passte er. Bestimmt hieß die Farbe des Kleides oder des Hutes ebenfalls Tiffany. Tiffany-Rosa, Tiffany-Orange ... ja, das würde passen. Auch wenn die Aufmachung der Frau Jonathans Sehnerv unangenehm reizte, war sie auf merkwürdige Weise stimmig.
Der liebe George entpuppte sich als Lord Berrington, der tatsächlich ein Glas mit Scotch in der Hand hielt. „Lydia, was für eine nette Überraschung!“ Er lief auf die Frau zu und küsste sie auf die Wangen.
„George, sag, wie geht es meiner lieben Schwester? Sie muss fürchterlich mitgenommen sein, das arme Ding war schon immer sehr zart besaitet.“
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