2. Hideo Yokoyama
Leiter der Fortbildungsstelle kam erst recht nicht infrage. Bei ihm stimmten zwar Alter und Erfahrung, aber seine Heimatstadt lag im Zuständigkeitsbereich der Direktion. Ein solches Vorgehen war tabu und würde Fragen aufwerfen. Futawatari würde nicht umhinkommen, eine Begründung für die Versetzung zu liefern.
Arschloch.
Wieder fluchte Futawatari. Er atmete tief durch und machte sich dann daran, das schon abgesegnete Puzzle in seine Einzelteile zu zerlegen. Es half nichts, er musste alles wieder aufdröseln. Den Leiter von Markenrecht hinüberschieben zu Direktion G, die eine Stufe unter Direktion S lag. Den Leiter von Direktion G zurück zur Jugendkriminalität im Präfekturpräsidium holen. Den Leiter der Jugendkriminalität bei der Kommunalen Sicherheit unterbringen. Den Leiter der Kommunalen Sicherheit zu …
»Futawatari. Haben Sie eine Minute Zeit?«
Er blickte auf, sein Gesicht noch immer grimmig, und sah Dezernatsleiter Shirota, der ihm von der halb offenen Eingangstür her Zeichen machte. Hier drüben gab es keine Telefone. Das war ein ganz bewusstes Signal; nicht nur drangen auf diese Weise weniger Informationen nach außen, es konnte auch niemand anrufen und Sonderwünsche anmelden. Selbst Shirota, der ranghöchste unter den Dezernatsleitern im Präsidium, musste den weiten Weg aus der Verwaltungsabteilung auf sich nehmen, durch den langen gekachelten Verbindungsgang, der vom Hauptgebäude zum Nordflügel herüberführte. Futawatari nickte und stand auf. Zum ersten Mal seit Stunden warf er einen Blick auf die Uhr an der Wand.
Schon nach neun.
»Es ist ein Problem aufgetreten. Wenn Sie so freundlich wären, mich ins Büro des Direktors zu begleiten?« Die Sorgenfalten auf Shirotas Stirn waren selbst in dem dämmrigen Korridor zu erkennen.
Was denn nun schon wieder?
»Wenn es um Direktion S geht – ich habe schon angefangen …« Futawatari brach den vorschnell begonnenen Satz ab. Von dieser Sache hatte Shirota bereits Kenntnis, wenn er sich also persönlich herbemühte, musste das andere Gründe haben. Und es klang ganz so, als wäre der Abteilungsdirektor noch in seinem Büro statt wie sonst um diese Zeit zu Hause bei einem Glas Brandy. Futawatari trat noch einmal kurz an den Schreibtisch. Er schloss die geöffneten Dateien, nahm die Diskette heraus und sperrte sie im Tresor ein. Dann folgte er dem nervös vorausgehenden Shirota den Gang entlang.
Futawatari sah blass aus, auch ohne den Widerschein des Bildschirms.
Welches Problem konnte noch größer sein als das jetzige?
Sie nahmen Kurs auf das Hauptgebäude, durcheilten Korridor um Korridor, bis sie den roten Teppich erreichten, mit dem der ganze lange Gang bis zum Amtszimmer des Präsidenten ausgelegt war. Rechter Hand fiel ein Lichtschein durch die Glasscheibe in der Tür des Direktors. Futawatari straffte die Schultern und folgte Shirota hinein. Augenblicklich fühlte sich der Teppich unter den Füßen dicker an. Direktor Oguro, der auf einem Sofa saß, sah ihnen entgegen. Seine Augen waren unmutig zusammengekniffen.
»Es ist ein Problem aufgetreten.« Oguro zeigte auf ein zweites Sofa, wartete aber nicht erst ab, bis sie saßen, ehe er dieselben Worte hervorknurrte wie vor ihm Shirota.
»Welcher Art, Herr Direktor?«
Shirota mied Futawataris Blick. Der für seinen Teil war bereits jetzt auf das Schlimmste gefasst.
»Osakabe. Er hat uns mitgeteilt, dass er seinen Posten nicht räumen will.«
»Was?«, entfuhr es Futawatari, ehe er seine Verblüffung überspielen konnte.
»Tja, es wirkt sehr so, als wäre der Herr auf Ärger aus.« Oguro unternahm gar nicht erst den Versuch, seine Gereiztheit zu kaschieren.
Aber das ist … undenkbar.
Michio Osakabe. Der Mann gehörte zu den ganz Großen bei der Polizei. Er hatte das Kriminaluntersuchungsamt geleitet, bis er vor drei Jahren aus dem aktiven Dienst ausgeschieden war, um einen Vorstandsposten zu übernehmen, den die Verwaltung geschaffen hatte. Seine Amtszeit sollte zur jetzigen Versetzungsrunde auslaufen. Als sein Nachfolger war Direktor Kudo von der Kommunalen Sicherheit vorgesehen, der seinerseits dieses Jahr in den Ruhestand ging.
Das wars dann mit dem Puzzle.
Shirota hatte Osakabe vor nicht einmal einer Stunde zu Hause angerufen, um die Übergabe zu besprechen. Doch als er das Thema anschnitt, hatte Osakabe ihm eröffnet, dass er nicht gehen würde, und das Gespräch kurzerhand abgebrochen.
Futawataris Herz hämmerte. Osakabe weigerte sich, seinen Posten zu räumen. Wohin dann mit Kudo? Eine der Schlüsselaufgaben der Verwaltung war die Schaffung von Posten, in die leitende Beamte bei der Pensionierung wechseln konnten. Das war eine Möglichkeit für die Abteilung, ihre Kompetenz unter Beweis zu stellen. Das Personalbüro blamierte sich bis auf die Knochen, wenn für jemand so Hochrangigen wie den Direktor der Kommunalen Sicherheit kein Posten bereitstand. Und jedes Versagen des Personalbüros warf ein schlechtes Licht auf die Verwaltung als Ganzes.
Verdammt.
»Hat er einen Grund genannt?«, fragte Futawatari. Er versuchte beherrscht zu klingen, aber in seiner Stimme schlug die Anspannung durch.
»Wenn er das getan hätte, wäre die Sache einfacher«, fauchte Oguro.
Oguro hasste und fürchtete Versagen auf jeglicher Ebene. Er war im südlichen Teil der Präfektur geboren und hatte es in seiner Bezirksdirektion zum Revierleiter gebracht. Nach ein paar Jahren dort hatte er sich, vielleicht einer spontanen Regung folgend, für die Prüfung zum höheren Dienst angemeldet, sie bestanden und so in die Karriereschiene gewechselt. Dennoch blieb er in vielerlei Hinsicht ein Zwitter. Auf Präfekturebene mochte er noch so viel gelten, aus Sicht Tokios, wo die »reinrassigen« Bürokraten den Kampf um die Spitzenposten unter sich austrugen, blieb er ein kleiner Fisch. So war er zwischen den Regionaldirektionen hin und her gereicht worden, mit gelegentlichen unbedeutenden Tokioter Gastspielen, die ihn jedoch zu keiner Zeit hatten vergessen lassen, dass ihm die wichtigste Voraussetzung für den Aufstieg fehlte: eine eigene Seilschaft. In seinem Alter hatte er nur noch einen oder zwei Posten vor sich. Er hoffte sicher, eine Direktionsleitung zu ergattern, bevor er seine Uniform an den Nagel hängte. Eine kleine Direktion wäre schon genug – vielleicht irgendwo in der Ebene, wo das Klima milder war.
Untersteht euch und versaut mir das.
Für Futawatari hätte die Warnung genauso gut laut ausgesprochen sein können.
»Die Versetzungspläne kann Abschnittsleiter Uehara fertig machen – Sie finden heraus, was in Osakabe gefahren ist.«
Auch Shirota hatte die Drohung demnach gehört; in dem Blick, mit dem er Futawatari seinen Befehl erteilte, lag fast schon etwas Flehentliches.
2
Auf dem Weg zurück durch den dunklen Korridor hätte Futawatari am liebsten das Gesicht in den Händen vergraben. Auch wenn Shirota es nicht in dieser Deutlichkeit gesagt hatte: Die Lösung des Problems wurde von ihm, Futawatari, erwartet. Was immer Osakabe plante, die Mühlen des Präsidiums hatten bereits zu mahlen begonnen. Futawatari würde nichts anderes übrig bleiben, als dem Mann die Kündigung zu überreichen. So viel schien unvermeidlich. Dafür werden Sie schließlich bezahlt. Futawatari hatte sich einen Kommentar verkniffen. Er wusste ohnehin, was Shirota – immer der Erste, wenn es galt, die eigenen Interessen zu wahren – geantwortet hätte: Sie wissen doch besser als jeder andere, was es mit dem Posten auf sich hat.
Ein halbes Jahr vor Osakabes Eintritt in den Ruhestand hatte eine Gruppe von Baufirmen der Verwaltungsabteilung ihren Plan unterbreitet, eine Stiftung einzurichten, deren Aufgabe es war, die Entsorgung von Industriemüll zu überwachen. Der Schritt fiel nicht zufällig in eine Zeit, in der die Branche mit einer Welle von Korruptionsvorwürfen zu kämpfen hatte. Nach viel Kopfzerbrechen über die Frage, wie sich die Beziehungen zum Präfekturpräsidium verbessern ließen, waren die Firmen auf die Idee mit der Stiftung verfallen und boten der Polizei nun einen Vorstandsposten an.
Der Verwaltung ihrerseits