2. Hideo Yokoyama
sogar eine Ahnung, was dahintersteckte.
»Wissen Sie, wo er ist?«
»Ich glaube …«, murmelte Miyagi und richtete den Blick auf die Karte an der Wand, »… doch, er nimmt einen Lokaltermin im Norden wahr, wobei ich Ihnen nicht genau sagen kann, wo. Wie Sie sicher wissen, ist der Chef ein sehr tatkräftiger Mensch.«
»Einen Lokaltermin?«
»So nennen wir das, wenn wir ein Gelände inspizieren, wo es Fälle von illegaler Entsorgung gegeben hat.«
Natürlich. Die Nadeln auf der Karte markierten illegale Müllkippen. Die schiere Anzahl war erstaunlich: Hunderte, so konnte man meinen. Futawatari hatte Geschichten von Lastwagen gehört, die den Industriemüll aus den Städten herauskarrten, aber es war schwer, sich Aktivitäten solchen Ausmaßes vorzustellen.
Wieso übernahm Osakabe diese Fahrten selbst?
Futawatari dachte an die Leitsätze der Stiftung zurück, die er sich vor drei Jahren angesehen hatte. Der vorrangige Auftrag war ein erzieherischer: Dem privaten Sektor sollten Richtlinien an die Hand gegeben werden, die es den Betrieben erleichterten, unethisch operierende Entsorgungsunternehmen zu meiden. Die Stiftung brachte außerdem Broschüren in Umlauf, die die Bevölkerung dazu aufriefen, Fälle illegaler Entsorgung zu melden. Und sie führte Vor-Ort-Inspektionen durch, wenn solche Meldungen eingingen. In einzelnen Fällen, wenn die Überprüfung ungewöhnlich große Mengen Müll ergab oder wenn die Entsorgungsstelle in der Nähe einer Wasserquelle lag, trug die Stiftung ihre Befunde zusammen und beantragte eine offizielle polizeiliche Untersuchung.
Nach Miyagis Ton zu urteilen, nahm Osakabe diese Inspektionen mit großem Einsatz vor. Und doch musste man sich nur im Büro umsehen, um festzustellen, dass es hier nicht an jüngeren Männern mangelte, Männern noch dazu, die sichtlich über genug Zeit verfügten. Aber selbst bei augenscheinlicher Personalknappheit hätte es verwundert, wenn der Vorstandsvorsitzende der Stiftung – der dieses Jahr dreiundsechzig wurde – all die Fundstellen in eigener Person aufsuchte.
»Führt Ihr Chef die Inspektionen öfter persönlich durch?«
»Nun ja.« Miyagi schaute etwas unbehaglich drein. »Doch, fast täglich.«
»Fast täglich?«
»Seit einem Jahr etwa. Ich habe ihm natürlich vorgeschlagen, die Aufgabe zu delegieren, aber er besteht darauf, selbst hinzufahren.«
Futawatari nickte ein paarmal verständnisvoll, bevor er die nächste Frage stellte. »Wann erwarten Sie ihn denn zurück?«
»Wahrscheinlich gegen fünf oder sechs. Es kommt aber auch vor, dass er direkt nach Hause fährt, je nachdem, wie lange die Inspektion dauert.«
»Schaut er für gewöhnlich im Büro vorbei?«
»Nicht unbedingt. Wir haben heute noch nichts von ihm gehört.«
Es war töricht gewesen, sich von Miyagi etwas zu versprechen. Woher sollte dieser Mann, der im Büro die Stellung hielt und nach Osakabes Pfeife zu tanzen hatte, etwas von den Motiven seines Chefs wissen?
Die Chancen, ihm etwas Brauchbares zu entlocken, schienen denkbar gering.
Futawatari seufzte im Stillen und richtete den Blick wieder auf die Landkarte. Irgendwo da draußen war Osakabe. Den Maßstab kannte er nicht, aber die Karte selbst war schon riesig, drei Meter im Quadrat sicherlich, mit einer akribischen Abbildung sämtlicher Fernstraßen wie auch der kleineren Straßen, die die Städte und Dörfer der Präfektur miteinander verbanden; sogar die Forststraßen waren eingezeichnet.
Vorhin beim Hereinkommen hatte er die roten Buntstiftlinien als sternförmig wahrgenommen, doch bei näherer Betrachtung sah man, dass sie alle von der Stiftung ausgingen. Sie bildeten Osakabes Fahrten ab; in alle Richtungen ausfächernd, markierten sie eine Unzahl von Strecken, jede mit einer Nadel an ihrem Ende, die einen Mülllagerplatz anzeigte. Viele reichten bis tief ins Gebirge; die Übeltäter schienen eine klare Vorliebe für entlegene Orte zu haben. Die Mehrheit dieser Routen folgten den Hauptstraßen, bis sie die Städte hinter sich gelassen und den Schutz der Berge erreicht hatten. Dort verzweigten sie sich dann, gabelten sich immer weiter, verästelten sich wie Äderchen, bis sie den jeweiligen Abladeplatz erreichten.
Eine Trittleiter stand daneben an der Wand, gleichsam als Zeugnis des Energieaufwands, den die Erfassung einer so ungeheuren Anzahl von Fährten erfordert haben musste. Futawatari sah in der Karte ein Sinnbild für den immensen Fleiß der Stiftung – oder den Osakabes.
Das Mittagessen kam, was Futawatari den erhofften Grund lieferte, sich zu verabschieden.
Einen Versuch ist es allemal wert.
Er ging zur Tür; Schritte hinter ihm bestätigten ihm, dass Miyagi ihm folgte. Möglichst beiläufig drehte er sich um und senkte die Stimme: »Sie haben es ja wohl schon gehört?«
Miyagi wusste offenbar gleich, wovon er sprach. »Ah, ja, natürlich. Der Vorsitz ist verlängert worden.«
Futawatari hielt seine Emotionen nur mühsam im Zaum, als der Lift mit ihm ins Erdgeschoss hinabsauste. Auf dem Weg zurück ins Präsidium fühlten sich seine Füße bleischwer an. Miyagi schien völlig unerschüttert von der Nachricht; ihm war keinerlei Groll deswegen anzumerken gewesen. Offensichtlich ahnte er auch nicht, welche Wellen Osakabes Verhalten schlug; wahrscheinlich hatte er ihm sofort zu der Verlängerung gratuliert. Futawataris Entrüstung nahm immer mehr zu. Osakabe hatte einseitig beschlossen, sein Amt weiterzuführen. In seinem Innern gab es keinen Konflikt. Er traf einfach seine Entscheidung, als hätte die Polizei kein Wort mitzureden. War das Arroganz? Oder kam es von seiner Überzeugung, dass die Arbeit bei ihm in den richtigen Händen war?
Wie immer die Antwort lautete, die maßgebende Frage war und blieb die nach dem Warum. Eine bildschöne junge Sekretärin. Ein geräumiges, komfortables Büro. Ein Dienstwagen mit Chauffeur, der ihm schon im Morgengrauen zur Verfügung stand. So lebte es sich bequem. Äußerst bequem.
Aber noch ein weiterer Faktor wollte bedacht sein.
Die Macht der Gewohnheit.
Einem Hinweis aus der Bevölkerung nachgehen. Zum Tatort eilen. Die Abfälle durchkämmen, eine Spur entdecken, die vielleicht zum Täter führte. Es glich allzu sehr der Kriminalarbeit. Eine Karte an die Wand heften, Nadel um Nadel hineinstecken, um die Ermittlungsschritte abzubilden. Nicht anders ging es bei einer Sonderkommission zu, die Jagd auf einen Täter machte.
Einmal Kripo …
Der Gedanke ließ sich nicht zum Schweigen bringen. Wieder sah Futawatari die topografische Karte vor sich, nur zeigte sie jetzt die Stationen der brillanten Karriere, die er am Vorabend an sich hatte vorbeiziehen lassen. Hatte der Mann eine Art Zusammenbruch? Die Vorstellung jagte ihm einen Schauder den Rücken hinunter.
Das ist alles nur Spekulation. Noch.
Shirota empfing ihn mit einem auffordernden Blick, als Futawatari in die Verwaltungsabteilung zurückkam. Das hieß vermutlich, dass der Direktor sie zu sprechen wünschte. Er wollte sich schon aufmachen, da sprang ihm der Kaffee ins Auge, der noch immer auf seinem Schreibtisch stand. Eine dünne Staubschicht hatte sich darauf gebildet. Stellen Sie ihn da hin, ich trinke ihn später. Er spürte, wie die Anspannung nachließ. Er blinzelte und sah Saito kerzengerade an ihrem Tisch sitzen, mit dem Rücken zu ihm. Über ihren Erfolg als Frau konnte er nichts sagen, aber bei der Polizei würde sie sicherlich ihren Mann stehen.
Er nippte an dem Getränk, das seit fünf Stunden kalt war, und eilte dann hinter Shirota her. Da er nichts vorzuweisen hatte, galt es sich für die Laune des Direktors zu wappnen, die zweifellos ähnlich bitter sein würde wie der Kaffee.
4
Am Abend fuhr Futawatari ein zweites Mal zu Osakabes Haus, aber er war noch nicht zurück.
Auch seine Frau war aus, das Haus lag still da. Futawatari fand nicht weit entfernt einen Park mit Schaukeln und einer Rutsche und entschloss sich, zu warten. Er konnte keine Kinder entdecken, keine jungen