Tote Augen – stumme Schreie. Karin Varch
das Tuch des Verdrängens über meine Erinnerungen und vergrub sie tief in mir. So lange, bis das Gewebe löchrig wurde. Die Erinnerungen quollen ans Tageslicht wie die Schenkel jenes Frosches zwischen meinen Fingern, den ich in der Kindheit gerne mit den Händen umklammert hielt, um ihn vor meinen Eltern zu verbergen.
Lange Jahre ahnte ich nichts von meiner Vergangenheit. Ich lebte ein scheinbar beschauliches Leben, verliebte und entliebte mich, suchte und fand meinen Lebenspartner. Wir heirateten, adoptierten unseren Sohn, da uns eigene Kinder verwehrt blieben, und nichts schien unser Glück zu trüben. Bis zu jenem Tag, an dem ein Gedankenfetzen durch mein Hirn jagte und ein Bild aufblitzen ließ. Ein Erinnerungsbild, mit dem ich zunächst nichts anfangen konnte, das mich aber aufs Höchste beunruhigte. Das Bewusstsein hatte im Unterbewusstsein zu graben begonnen. Es suchte so lange, bis alles freigelegt war, was ich über Jahre verdrängt hatte. Ein Prozess wurde gestartet, der nicht mehr zu stoppen war.
Ich war vier, als das Grauen begann und ER mich das erste Mal holte. „Zum Spielen“, wie ER es nannte. Dabei legte ER seinen Arm um meine schmalen Schultern. ER war groß, sehr groß – und alt. Mit einem Satz brach ER mir das Rückgrat: „Wenn du jemandem von unseren Spielen erzählst, sperre ich dich in dieses Loch.“ Seine Hand deutete auf eine Aussparung im Parkettboden. „Und niemand wird dich jemals finden!“
Ich dachte, wenn ich in diesem Loch lande, werde ich verhungern, sterben und keiner wird es merken. Mit vier Jahren denkt man bildhaft. Von da an war ich ihm ausgeliefert. So oft ihm der Sinn danach stand, holte er mich „zum Spielen“. Verließ ich nach einer solchen „Spielstunde“ erschöpft seine Wohnung, zog ich mir eine „Tarnkappe“ über. Alles, was sich davor abgespielt hatte, war mit einem Schlag vergessen. Keine Menschenseele schöpfte Verdacht – auch wenn es kaum zu glauben ist. Ich war umgeben von meiner Familie, trotzdem merkte keiner, was sich in der Einliegerwohnung unseres großen Hauses sechs Jahre lang abspielte.
Im Laufe der Zeit wurden seine Spiele perverser und brutaler. Um sicher zu gehen, dass ich stillhielt, genügte ein Satz: „Ich höre keinen Ton, sonst wird alles nur noch viel schlimmer!“
Die Aussicht, dass es noch schlimmer werden würde, ließ mich verstummen. Um zu überleben, entwickelte ich eine neue Strategie. Sobald er mit seinen Übergriffen begann, verließ ich meinen Körper. Meine Seele spaltete sich vom Körper ab. Von der Zimmerdecke aus sah ich mich auf dem Bett liegen: klein, verängstigt, mit vor Schock starren Augen. Meine Fäuste verkrallten sich in der weißen Bettwäsche mit dem grünen Blumenmuster. Der Körper spürte den Schmerz, meine Seele fühlte nichts. Am meisten quälte: Niemand nahm etwas wahr. Nicht einer bemerkte, dass meine Augen blind von ungeweinten Tränen, die Ohren taub von stummen Schreien waren.
Ich war zehn, als ich sterben wollte. Das Fenster im Kinderzimmer meiner Freundin zog mich magisch an. Sie wohnte in einem Hochhaus im zehnten Stock. Bei jedem meiner Besuche stellte ich mich ans Fenster und schaute in die Tiefe. Der graue Asphalt lockte. Ich presste die Stirn gegen die kühle Scheibe und schloss die Augen. „Wenn ich jetzt springe, ist alles vorbei“, waren meine Gedanken. Und ich fühlte, wie die Sehnsucht nach dem Tod mich in die Tiefe zog. Das Leben um mich herum verschwamm immer mehr mit jenen grauen Vorhängen, die mich vom Leben abschirmten. Alles versank in einer dunklen Masse aus Angst und Einsamkeit. Nichts nahm ich wahr, außer dem Abgrund vor meinen Augen und der Leere in meinem Inneren – ich wollte sterben!
Doch mein Schöpfungsplan sah anderes vor.
Mein Peiniger wurde krank. Sehr krank. Es begann mit einer nicht heilenden Wunde am Knöchel. Sie breitete sich über das ganze Bein und schließlich über den halben Körper aus. ER verfaulte bei lebendigem Leib. Eine gerechte Bestrafung für eine zerstörte Kindheit, eine gepeinigte Kinderseele, für leblose Kinderaugen. Kann es dafür genug Strafe geben?
Als ER starb, war ich elf und spürte unendliche Erleichterung. Die grauen Vorhänge, die mich von meinem Leben abgeschirmt hatten, verschwanden. Der Sog, der mich in die Tiefe zu ziehen drohte, wurde schwächer. Das Dunkel, das mein Leben wie eine Decke überzogen hatte, wich ersten zarten Farben – der Lebenswille hatte gesiegt.
Mit neununddreißig Jahren gab mein Unterbewusstsein nach und nach die Erinnerungen frei. Gefühle überschwemmten mich wie eine riesige Welle. Ohne Rücksicht riss sie alles mit sich. Ich klammerte mich irgendwo fest, um nicht fortgespült zu werden. Mit aller Kraft wehrte ich mich gegen das Ertrinken. Als die Wogen geglättet waren und das Meer aus Emotionen, Schmerz und Tränen sich zurückgezogen hatte, war nichts mehr wie zuvor.
Mein Leben lag in Trümmern – zerstört von einer Vergangenheit, die mich in der Gegenwart frontal traf, um mir die Zukunft zu rauben. In mir tobte ein Schmerz, der mit nichts anderem vergleichbar war. Ständig lauerte er mir auf und schlug erbarmungslos zu. Nichts konnte ihn lindern. Dieser Schmerz hieß Erinnerung und fraß meine Seele auf. Von Todessehnsucht getrieben, vegetierte ich dahin.
Mit einundvierzig fand ich die richtige Therapie. Nochmals tauchte ich in den Morast der Kindheit ein. Ich kroch durch den Sumpf der Erinnerung, schleppte mich durch die tiefste Talsohle des Lebens und eroberte mir meinen Platz an der Sonnenseite des Lebens zurück. Ein steiniger, aber lohnenswerter Weg.
Was ich in der Kindheit durchleben musste, formte meinen Charakter. Es brachte mich fast um, doch ich überlebte. Mit Recht darf ich sagen: Es hat wehgetan!
ER ist tot.
Ich lebe.
Ich war und bin die Stärkere.
Mit zweiundvierzig begann mein neues Leben.
Eine Umfrage
Wie würden Sie auf folgende Fragen antworten?
Schreiben Sie Ihre Gedanken nieder:
Würden Sie es bemerken, wenn in Ihrem Umfeld ein Kind sexuell missbraucht wird?
Woran würden Sie erkennen, dass ein Kind sexuell missbraucht wird?
Was würden Sie tun, wenn Sie bemerken, dass ein Kind in Ihrem Umfeld sexuell missbraucht wird?
Ich habe eine private Umfrage gestartet, um festzustellen, wie aufmerksam Menschen mit dem Umfeld, in dem sie leben, umgehen.
Hier das Ergebnis:
Würden Sie es bemerken, wenn in Ihrem Umfeld ein Kind sexuell missbraucht wird?
Die meisten Befragten gaben spontan zur Antwort:
„Ja, natürlich würde ich das merken.“
„So etwas sieht man doch sofort.“
Woran würden Sie erkennen, dass ein Kind sexuell missbraucht wird?
Bei dieser unmittelbar folgenden Frage dachten die Teilnehmer nach. Keiner konnte sagen, woran er merken würde, dass ein Kind sexuell missbraucht wird.
Ich wiederholte meine erste Frage:
Würden Sie es merken, wenn in Ihrem Umfeld ein Kind sexuell missbraucht wird?
Nun erkannten die Befragten: Sie wissen nicht, woran man es erkennt.
Was würden Sie tun, wenn Sie bemerken, dass ein Kind in Ihrem Umfeld sexuell missbraucht wird?
Auf diese Frage gaben einige zur Antwort: „Ich würde mit den Eltern des Kindes reden.“
Andere: „Ich würde Anzeige erstatten.“
Viele wussten nicht, was sie in so einer Situation tun sollen.
Die Antworten zeigen deutlich, wie bedeutsam es ist, Menschen für dieses heikle Thema zu sensibilisieren. Eine wichtige Thematik in unserer Zeit, in der immer mehr erschütternde Missbrauchsfälle an die Öffentlichkeit gelangen. Die Dunkelziffer ist nach wie vor unendlich hoch.
Faktum ist: Auf die Frage, ob Sie es merken würden, dass ein Kind in Ihrem Umfeld sexuell missbraucht wird,