Tote Augen – stumme Schreie. Karin Varch
Bausteinen. Es lebt im Hier und Jetzt. Die Auseinandersetzung mit Ihnen hat es längst vergessen.
Eine Mehrkind-Familie mit gleicher Ausgangslage: Sie kochen, Ihre Kinder spielen. Wie Kinder nun mal sind, beginnen sie mit der Zeit sich zu streiten und verlagern ihren Konflikt in die Küche. Ein äußerst ungünstiger Ort. Das ist ihnen nicht bewusst. Folgendes passiert: Entweder mutieren die Kinder zu Musketieren und sind „einer für alle – alle für einen“, und die Fragezeichen stehen ihnen ins Gesicht geschrieben, gemäß dem Motto: „Warum regt sich Mutti/Papa nur so fürchterlich auf? Es ist doch alles in Ordnung.“ Oder Sie und die Kinder toben vor Zorn. Ihr schlechtes Gewissen quält Sie. Schnell nehmen Sie Ihre Kinder tröstend in den Arm. Schon ziehen sie sich in die Spielecke zurück und tun, als wäre nichts geschehen.
Eine beneidenswerte Fähigkeit. Beleuchtet man diese Begabung jedoch kritisch, können wir von Glück sagen, dass wir sie uns nicht bis ins hohe Alter bewahren können. Wir würden fern jeder Realität das Leben an uns vorbeirauschen lassen. Setzen wir diese Realität ins wirkliche Leben um, schaut alles anders aus.
Nehmen wir noch einmal das Beispiel von vorhin. Wäre es dem Kind nicht möglich, im Hier und Jetzt zu leben, könnte kein Elternteil bei dieser Ausgangslage das Mittagessen in Ruhe weiter vorbereiten, ohne zu riskieren, dass sich das Kind aus Wut etwas antut. So aber wissen wir: Das Kind hat sich wieder beruhigt und wir können zur Tagesordnung zurückkehren.
Haben Sie sich schon einmal Gedanken darüber gemacht, dass das für einen Erwachsenen typische Selbstverständnis auch fürs Kind gilt?
In diesem erwähnten Beispiel geht es um nichts. Es ist eine Lappalie, die jeden Tag vorkommt. Schwierig wird es, wenn es zu Situationen kommt, mit denen ein Kind überfordert ist, die trotzdem passieren, obwohl sie für das Kind unbegreiflich sind. Physisch hinterlassen sie bei ihm keinen anderen Eindruck als die Geschichte zuvor. Sie passieren und das Kind „vergisst“ sie. Psychisch verletzen sie das Kind zutiefst, nachhaltig und im schlimmsten Fall sogar lebensbedrohlich.
Pädophil veranlagte Menschen scheinen dies zu wissen. Wie sonst lässt es sich erklären, dass ein Kind in der Lage ist, ausgelassen auf einem Spielplatz zu spielen; kurze Zeit später wird es von einem Triebtäter unter einem Vorwand weggelockt und missbraucht. Ist es wieder auf den Spielplatz zurückgekehrt, gibt es sich wie zuvor, gleichgültig, was in der Zwischenzeit geschehen ist. Diese Tatsache macht es so schwierig, sexuellen Missbrauch zu erkennen. Das Kind ist unfähig, uns zu sagen, was geschehen ist, weil es das nicht begreifen kann. Es hat keine Worte dafür. Zudem wird ein missbrauchtes Kind massiv unter Druck gesetzt.
Ein Kind lebt im Hier und Jetzt!
Wir würden es manchmal gerne können – das Kind kann es. Diesen Schutzmechanismus beherrscht es und das ist im Normalfall gut so. Geht es jedoch um existenzielle, lebensbedrohliche Situationen, ist dieser Schutzmechanismus hinderlich. Ein Kind, das sexuellem Missbrauch oder Misshandlungen ausgesetzt ist, baut blitzartig einen Schutzwall auf. Dieser Mechanismus ist ihm nicht bewusst, es handelt instinktiv, um überleben zu können.
Werden wir Erwachsene einer Situation ausgesetzt, die wir im Geist zwar rasch nachvollziehen können, aber weder emotional noch auf körperlicher Ebene folgen können, wirft uns dies aus der Bahn. Wir brauchen eine gewisse Zeit, um alles auf einen Nenner zu bringen und das Erfahrene zu verarbeiten. Nur so sind wir in der Lage, das Geschehen zuzuordnen und damit rational umzugehen. Jeder, der schon einmal Ähnliches erlebt hat, weiß, wie viel Energie man aufwenden muss, um das zu meistern.
Dem Kind fehlt diese Ratio. Es wird von seinen Gefühlen geleitet. Der Organismus übernimmt für die Ratio das Handeln. Für das Kind ist nur eins wichtig: das Überleben!
In gewissen Situationen, vor allem bei sexuellem Missbrauch, kann es das nur, wenn es die Ratio ausschaltet, also rein emotional und instinktiv handelt. Die Verdrängung beginnt.
Verdrängung
Sicher hat jeder von uns schon eine Situation erlebt, die er zunächst nicht wahrhaben wollte. Im ersten Augenblick reagiert man fassungslos, danach kommt der Gedanke: Das kann nicht sein! Dann die Erkenntnis: Es ist so. Anschließend beginnt, zumindest vorübergehend, die Verdrängung. Wir beschäftigen uns mit irgendwelchen unnützen Dingen, um uns abzulenken. Das Ereignis, das uns fassungslos machte, wird vorerst zurückgestellt. Dies geht für kurze Zeit gut. Sodann stellen wir uns der Situation und beginnen sie zu lösen.
Ähnlich funktioniert dies mit Verdrängung nach sexuellem Missbrauch, allerdings mit einem kleinen Unterschied. Alles, was davor war, scheint augenblicklich vergessen – doch das Unterbewusstsein speichert es. Wird ein Kind sexuellen Handlungen ausgesetzt, ist es für diesen kleinen Menschen eine erschreckende und unfassbare Situation. Vom Verstand her weiß es noch nicht, was da mit ihm passiert. Das Unterbewusstsein hat jedoch bereits begriffen, dass es etwas Schreckliches ist, und der Körper beginnt, sich zu wehren. Dem Missbrauch ist ein Kind immer hilflos ausgeliefert. Sobald er vorüber ist und das Kind den Ort des Geschehens verlässt, beginnt die Verdrängung. Es ist eine Schutzfunktion des Körpers. Wäre das Kind nicht in der Lage, derartige Erlebnisse schlagartig zu verdrängen, würde es den Missbrauch keinesfalls überleben.
Die Verdrängung ist nach so einschneidenden Ereignissen umfangreich und tief. Es können viele Jahre, sogar Jahrzehnte vergehen, bis die Erinnerungen zutage kommen. Die Folgen für Körper und Seele sind fatal.
Stellen Sie sich das Bewusstsein und Unterbewusstsein wie einen riesigen Eisberg vor. Von einem Eisberg sehen Sie nur die Spitze. Der weit größere Teil befindet sich unter Wasser. Dieser Teil wird Schiffen immer wieder zum Verhängnis, weil er nicht gesehen werden kann. Er treibt im Verborgenen sein zerstörerisches Unwesen. Genauso zerstörerisch wirken verdrängte Erinnerungen in unserem Unterbewusstsein. Zwar sind wir in der Lage, furchtbare Erlebnisse zu verdrängen, vergessen können wir sie nicht. Diese verdrängten Erinnerungen sind im Unterbewusstsein verankert und warten dort auf Entdeckung.
Über viele Jahre funktioniert die Verdrängung gut und man lebt ein scheinbar normales Leben. Das Unterbewusstsein ist rund um die Uhr aktiv. Die verdrängten Erinnerungen ruhen nie. Sie nagen an der Seele, bis der Körper dem Druck nicht mehr standhalten kann. Zu diesem Zeitpunkt beginnt das Unterbewusstsein sie an die Oberfläche zu befördern. Zunächst merken die Betroffenen davon nichts. Allerdings schicken ihre Körper in immer kürzeren Abständen ein SOS in Form von Krankheiten, Schlafstörungen oder kleinen Unfällen – bis die ersten Flashbacks auftauchen.
Flashbacks sind Erinnerungsfetzen, die plötzlich durch das Gehirn jagen. Die Opfer sind erneut fassungslos wie seinerzeit, bevor die Verdrängung begann. Alles, was jahrelang tief im Unterbewusstsein vergraben war, holt sie mit voller Wucht ein – nimmt ihnen den Atem. Von einer Sekunde auf die andere werden sie mit der Vergangenheit konfrontiert. Oft brauchen sie Tage, um zu begreifen, dass die Erinnerungsfetzen zu ihrem eigenen Leben gehören. Ab diesem Zeitpunkt gibt es keine Verdrängung mehr. Nun müssen sie beginnen, sich mit dem Erlebten auseinanderzusetzen und es zu verarbeiten.
Welches Ereignis auch immer die Verdrängung ausgelöst haben mag – der Verdrängungsmechanismus hält kein Leben lang stand. Je größer die seelische Verletzung war, umso größer und tiefer ist die Verdrängung, umso grausamer das Erwachen. Manchmal genügt schon eine unbedachte Äußerung, um eine tiefe seelische Verletzung auszulösen. Die Verdrängung scheint der einzige Ausweg aus der momentanen Situation zu sein.
Zum besseren Verständnis ein kleines Beispiel: Es gibt Menschen, die haben eine wunderbare Singstimme. Ihr Talent nutzen sie nicht, weil ihnen in der Kindheit eingeredet wurde, sie wären unmusikalisch oder sie sollen mit der ständigen Singerei nicht nerven. Dies gräbt sich derart in ihr Unterbewusstsein ein, dass sie nicht in der Öffentlichkeit singen wollen. Ihr Gedächtnis hat die Demütigungen der Kindheit scheinbar gelöscht, bewusst erinnern sie sich nicht mehr daran. Das Unterbewusstsein hält die Erinnerung gefangen und hindert sie zu singen. Sie würden es vielleicht gerne tun, doch es kommt kein Ton über ihre Lippen – zumindest nicht, wenn jemand zuhört.
Wie schwer es für Missbrauchsopfer ist, diese Erinnerungen zuzulassen und zu verarbeiten, kann niemand nachvollziehen. Wir können versuchen,