Der Katholische Bahnhof. Irmin Burdekat
– und ich erreichte damit, was ich wollte. Er ließ mir freie Hand, und ich verbiss mich in die Geschichte des Jungen Fabrikanten. Ich erkannte eine gewisse Seelenverwandtschaft zu diesem Typen und entwickelte Interesse an seinem Leben. Falsch: an seinem Lebensweg! Außerdem, das sei zugegeben, entfachte er meine Fantasie. Das wurde eine schwere Last im Hinblick auf die erwünschte Firmenchronik, auf die es bei mir eher nicht hinauslief.
Mich interessieren nämlich Menschen. Und der Zickzackkurs durchs Leben, den Dennis’ Vater hingelegt hatte, packte mich.
Der Junge Fabrikant wird 1942 als einziger Sohn der Eheleute Elfriede und Wilhelm Pretorius geboren und auf den damals progressiven Namen Manfred getauft. Er gibt zwanzig Jahre später zum Besten, dass es seine Mutter war, die ihm den Namen Adolf erspart hat. Manfred kommt in den Genuss, Kriegskind genannt zu werden, wenngleich es im Hause Pretorius immer genug zu essen gibt. Hunger im Sinne von Nahrungsmittelknappheit bleibt ihm fremd. Hunger nach Anerkennung, Liebe und Trost hingegen wird zeitlebens sein Wegbegleiter. Soweit es sich beurteilen lässt, ist die Jugend des zukünftigen Jungen Fabrikanten ungestört. (Darum zumindest beneide ich ihn. Während ich mich als Pubertierender gegen die starren Regeln meines Elternhauses auflehnen musste – Sitz gerade! Kämm dir die Haare! Rede nicht ungefragt dazwischen! Tanz nicht aus der Reihe! Was sollen denn die Leute denken! Und so weiter… –, muss Manfred Pretorius nur gegen imaginäre Wände anrennen.)
Keine Zuneigung ist seine Regel, kein Interesse seine Strafe, keine Zuwendung sein täglich’ Brot. Dagegen kann er opponieren. (Das erschien mir wiederum schwerer als mein Schicksal. Stell dir vor, du kommst als Fünfzehnjähriger mit einer Sicherheitsnadel in der Wange nach Hause und hörst bloß: „Essen steht im Kühlschrank.“)
Die Eltern Pretorius schleppen eine Menge Macken mit sich herum, die der kleine und dann größer werdende Manfred ausbaden darf. Aber was soll man schon machen, wenn der Vater sein Kriegstrauma durch innere Emigration und die Ausschaltung jeglicher Gefühle auslebt? Wie begegnet man einer Mutter, die ihre Ehe als Zwangsheirat versteht, in erotischen Gedanken einer Schulfreundin nachträumt und ihr Leben durch immer mehr Alkohol vernebelt? Der zukünftige Junge Fabrikant ist eine arme Sau. Da helfen auch kein Internat, keine zehn Loks auf der Märklin-Eisenbahn, kein Plattenspieler im Kinderzimmer und kein Taschengeld ohne Limit.
Als Siebzehnjähriger dann die große Wende. Marlene Lendruscheit, die fast sechzehnjährige Nachbarstochter, entpuppt sich plötzlich als frauliches Wesen, hat auf einmal einen völlig anderen Blick drauf, und es kommen begehrenswerte Formen in Manfreds Blickfeld. Waren die schon immer da? Er grübelt und wertet seine Entdeckungen als schöne Überraschung, um die man sich mal kümmern sollte. Lendruscheits sind Flüchtlinge, kommen aus Jägertacktau, was angeblich drei Schienen hinter Danzig liegt. Sie leben beengt im Souterrain der Nachbarsvilla. Vater Lendruscheit ist kriegsversehrt, hat ein Bein verloren, aber seinen unerschütterlichen Glauben an den Führer gerettet. Die arme Marlene. Und dann auch noch katholisch. Herr Lendruscheit arbeitet als Pförtner in der Filter- und Lüftungsanlagenbaufirma der Familie Pretorius. Ein Job, der ihn verbittert. Das Bein für Volk und Führer gegeben, und als Dank dafür wird der ehemalige Zimmermann nun in eine enge gläserne Kabine abgeschoben, muss Meldezettel ausfüllen und einen bahnschrankenähnlichen Schlagbaum öffnen und schließen. Dabei wird er vollgepufft mit den stinkenden Dieselabgasen der anfahrenden LKW. Mutter Lendruscheit erträgt still ergeben ihren Mann, kümmert sich um die Wäsche und Fußböden der Familie Pretorius und um ihre einzige, geliebte Tochter, sodass kein Rest des Kümmerns für sie selber übrigbleibt.
Manfred Pretorius feilt an Plänen. Marlene Lendruscheit hat schon einen. Sie öffnet das Vorderradventil, lässt nahezu alle Luft entweichen und schiebt das Rad rüber zu den Pretorius’. Manfred liegt im Garten hinter einem Rhododendronbusch. Neben ihm sein Koffer- radio, aus dem amerikanische Soldaten-DJs sogenannte Negermusik senden. „Hast du vielleicht eine Pumpe?“ Na klar hat Manfred eine. Ha, und was für eine sogar! Und außerdem gibt’s auch eine Luftpumpe. Der Reifen ist schnell wieder prall. Den Weg zur Eisdiele fahren sie nebeneinander. Marlene ist zu diesem Zeitpunkt schon ausgewachsen, etwa einen Meter fünfundfünfzig groß. Also eher klein. Sie hat ein rundes, fröhliches Gesicht, starke Augenbrauen und damit klare Konturen. Ihre Haare sind halblang, dunkelblond und auffällig voluminös. Sie ist eine gute Schülerin und besucht die elfte Klasse des Liebfrauengymnasiums. Alle Klassenkameradinnen mögen sie und lachen sich schlapp, wenn Marlene singt. Singen muss! Sie kann es nicht und im Sport ist sie ebenfalls eher unteres Mittelmaß. Aber sie ist kommunikativ.
Sie hat ein gewinnendes Wesen. Behaupten jedenfalls ihre Lehrer. Und Manfred wird es auch behaupten. Auf dem Rückweg vom Eiscafé fahren sie schon Hand in Hand. Natürlich nur, weil der junge Pretorius ein Gen- tleman ist und der Nachbarstochter bei dem leichten Anstieg zum Hausberg behilflich ist. Tage später. Der erste Kuss? Marlene will, glaubt aber, nicht zu dürfen. Manfred will, ist aber kein Draufgänger. Er will nur, wenn sie es will. Wieder hilft ein Plan von Marlene. „An meinem sechzehnten Geburtstag darfst du mich küssen.“ „Wann hast du denn Geburtstag?“ „Heute!“
Der Rhododendronbusch in Pretorius’ Garten wird zum Dreh- und Angelpunkt einer auflodernden Liebe. Hinter ihm gibt es eine neutrale Zone. Die Stelle kann weder aus dem Souterrain noch aus den ersten beiden Etagen der Villa Pretorius eingesehen werden. Hier treffen sich Marlene und Manfred. Manchmal nur für einen kleinen Kuss. Dann wieder, wenn die Eltern Lendruscheit vor ihrem Grundig-Radio sitzen und Operetten hören, langt Manfred über den Zaun, umfasst die zierliche Marlene, greift unter ihre Schenkel und wuchtet sie herüber. Dann werden die Küsse länger und Hände und Finger gehen auf Wanderschaft. Marlene riecht nach frischer Buttermilch, gemixt mit einem zarten, antörnenden Ton von sauberem Teer: die Reste ihrer Akne-Creme. Manfred – er würde einen Preis beim James-Dean-Doppelgänger-Contest gewinnen – riecht nach der speckigen Wildlederjacke, die ihn sieben Tage die Woche wie eine Panzerung umgibt. Seine James-Dean-Physiognomie hält sich nicht in der Gegenwart von Marlene. Ist sie bei ihm, weichen seine Züge auf und zeigen Freundlichkeit, Großzügigkeit, ein wenig Stolz und ganz viel verliebte Gefühle. Sie schaut zu ihm auf, er auf sie herunter, dennoch sind beide auf Augenhöhe. Das Jugendzimmer in der dritten Etage des Hauses Pretorius profitiert ebenfalls von der neuen Entwicklung in Manfreds Leben. Ehedem herumfliegende Socken, Unterwäsche, Badesachen, Schuhe, Cola-Flaschen, mit angetrockneten Lebensmittelresten verdrecktes Geschirr, alles wird nun fein säuberlich unters Bett geschoben. Ein Ruck an der Tagesdecke, und schon könnten nur noch kleine Schildkröten aus einiger Entfernung das neuangelegte Depot entdecken. Auch die Ordnung auf der Fensterbank – hier liegen alte Schulbücher und seit Jahren ein Berg unbeantworteter Glückwunschkarten zur Konfirmation – erhält ein neues System. Das Erkerfenster wird Beobachtungsposten und Arbeitsplatz. Schularbeiten erledigt Manfred ab sofort nur noch im Stehen. Soll ja auch gesünder sein. Alle sechzig Sekunden geht sein Blick zu dem Rhododendronbusch. Bewegt sich da was? Huscht da eine kleine Gestalt? Geht da plötzlich in den Abendstunden eines der Welthölzer, die Manfred Marlene zugesteckt hat, in Brand? Eine Fackel der Liebe? Eine Fackel der Begierde?
Puh, alles etwas pathetisch. Zu meiner Zeit hätten wir es mit einer Taschenlampe gemacht. Die Kids heutzutage würden ihr Handy traktieren. Bis hierher war die Story der beiden Verliebten doch einfach nur süß. Aber eben auch total normal. Dennoch traten diese Julia und ihr Romeo bald getrennt von der Bühne ab. Zwar nicht tot, aber fast. Und natürlich spielten die Eltern dabei die Schurkenrollen. Widerlicher Standesdünkel, einschüchternde Pfaffenhörigkeit, Dogmen und Vorurteile und sogar eine Prise Fremdenfeindlichkeit kamen ins Spiel. Wenn ich an meiner Theke mit Drama gefüttert werde, weil mir ein Gast angeblich sein Herz ausschüttet, dann sind es letztlich nur seine Unfähigkeiten, die er mit gestelzten Worten anderen in die Schuhe schiebt. Aber das Drama vom Ginsterberg war echt und damit für mich schwer einzutüten.
Zunächst läuft alles unauffällig und zur vollsten Zufriedenheit der Liebenden. Wenn Manfred die Eisdiele betritt, fragt die italienische Kellnerin nur „Una