Der Katholische Bahnhof. Irmin Burdekat

Der Katholische Bahnhof - Irmin Burdekat


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Turm. Doch dann legt sich eine Hand auf seine. Diese beiden Hände! Wie viele Worte sie miteinander wechseln! Zwischendrin muss man auf die Knie fallen, die Hände falten, ein Gesangbuch zur Hand nehmen und die Lippen bewegen. Dann herrscht wieder Ruhe und die Hände können weiter kommunizieren. Marlene sieht den leuchtenden Altar, und sie sieht ganz deutlich, wie sie selbst dort steht, als Braut in Weiß, die gleiche Hand in ihrer Hand wie gerade jetzt. Manfred sieht den Altar und träumt dasselbe, sieht sich und Marlene, nur will er es in seiner Kirche – hier ist es ihm zu fremd, zu lateinisch, und es riecht nach verbranntem Unkraut. Nach etlichem Auf und Nieder, nach Chorälen und Orgelgedonner, nach abgekanzelten Vorschriften und Empfehlungen fürs tägliche Leben, hört Manfred plötzlich ein geflüstertes „Geh!“ und sieht ihren Finger in Richtung Ausgang zeigen. Das Ende der Vorstellung. Manfred versteht und verdrückt sich als Erster, um die Strafe Gottes für seinen lästerlichen Auftritt entgegenzunehmen:

      Sein Rad ist geklaut. Das können schon mal keine Christenmenschen gewesen sein, denkt er und ignoriert seinen Ärger. Er schlendert in Richtung Hausberg und dreht alle zehn Sekunden den Hals zurück. Seine Geduld wird stark gefordert, aber dann ist sie da, Marlene bremst und ruft lachend: „Du Teufel!“

      Jeder Jüngling sehnt sich, so zu lieben, jedes Mädchen, so geliebt zu sein. aus: Zur zweiten Auflage des Werther, Goethe

      Die Wochen nach dem Betriebsfest bei Pretorius Filter- und Anlagenbau werden zu den glücklichsten im Leben von Manfred. Kurioserweise hilft der Alte Fabrikant tatkräftig mit, das Glück möglich zu machen. Eine Initiative der Handelskammer in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Versehrtenbund organisiert Umschulungsmaßnahmen, in denen Kriegsinvaliden von Handwerkern zu Bürokräften umgeschult werden. Der Pförtner Lendruscheit soll Kalkulator werden und bekommt einen der wenigen Plätze dieser Saison, weil sich sein Chef für ihn einsetzt. Ein paar Telefonate, und schon werden im Souterrain die Koffer gepackt. Ein halbes Jahr läuft der Kurs in der Landesbildungsanstalt Pente bei Bramsche. Alle vier Wochen dürfen die Teilnehmer für ein verlängertes Wochenende nach Hause.

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      Gestern hatte Ché-Daniel seinen dritten Geburtstag. „Du bist auch eingeladen!“, sagte Hanna, aber es klang wie: Komm’ ja nicht! Es fand nämlich bei ihren Eltern statt. Das muss man sich mal klarmachen: Mein Sohn wird drei, und ich werde quasi ausgeladen. Natürlich wusste ich, dass dem Großvater meines Sohnes der Geburtstag seines Enkels völlig wurscht war – er wollte nur sein Geld zurück, das er mir geliehen hatte. Aber mein Sohn ist mir wichtig, der feiert nicht ohne mich. Verkorkste Typen gibt’s weiß Gott genug auf der Welt. Meistens sind es gestörte Vater-Sohn-Beziehungen. Genau auf diese Problematik habe ich Dennis Pretorius aufmerksam gemacht, als ich ihm vorschlug, mir einen weiteren Vorschuss für das Buch zu geben. Er kam mit zweitausend und wollte wissen, ob ich schon im Firmenarchiv gewesen sei. Ich vertröstete ihn qualifiziert und stockte aus eigenen Mitteln den Betrag um weitere tausend Euro auf. Der von mir fest eingeplante gute Eindruck gestern Nachmittag hat sich nicht eingestellt. Mein Puzzle für Ché-Daniel war angeblich erst für Fünfjährige zugelassen, und Hannas Vater nörgelte: „Ich bekomme aber fünftausend, und warum gibst du mir das Geld in kleinen Scheinen?“ Ich zischte nur: „Herrgott, weil bei mir in der Kneipe nicht mit Fünfhundertern bezahlt wird!“

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      Die Lovestory von Marlene und Manfred ist voll in Fahrt gekommen. Und ohne Vater Lendruscheit im Nacken lassen sich kleine Freiräume zu immer größeren ausweiten. Ausreden werden zum wertvollsten Kapital in diesen Tagen. Zum Beispiel die anstehenden Bundesjugendspiele. Marlene erfindet zwei extra Sportstunden, die dann in Manfreds Zimmer abgehalten werden. Mit vollstem Körpereinsatz. Am Talbach, in der Dämmerung, kniet Marlene sich hin und holt aus Manfreds Hose, was ihr nicht mehr fremd ist. Sie schaut zu ihm auf und küsst und liebkost. Kurz vor dem Äußersten bricht Manfred ab. „Nein – mein Engel – ich will dich nicht …bitte… es ist sooo schön!“ Dann kommt es aus ihm heraus und landet im Gras. Manfred vibriert, durchflutet von Glücksgefühlen. Sein Kopf ist außer Betrieb. Marlene umklammert ihn von hinten und nimmt die Sache in die Hand. Tempo-Taschentücher helfen. Es gibt keine Grenzen mehr zwischen den Liebenden. Nichts bleibt unbekannt. Aber alles aufregend.

      Selbst an Tagen, an denen Frau Lendruscheit bei Pretorius putzen muss, kommt es zu Schäferstündchen in der dritten Etage. Sie schleichen durch die Kellertür ins Haus. Manfred läuft vor und checkt die Lage. Hört er seine Mutter und Frau Lendruscheit in der Küche tratschen, rennt er zurück, schnappt Marlenes Hand, und schon geht es auf Zehenspitzen im Hundertmetertempo durch das dunkle Treppenhaus hoch in die Kammer der Glückseligkeit. Kaum ist Herr Lendruscheit ein paar Tage weg, entdeckt Marlene ihre Leidenschaft für die Abendluft. „Mutter, ich geh’ ein paar Schritte vor die Tür, danach kann ich besser lernen.“ Vor der Tür ist hinter dem Rhododendronbusch, den Manfred im Sechzigsekundentakt kontrolliert. Taucht Marlene auf, stürzt er wie ein Falke die Treppen hinunter und hetzt in den Garten zum Spontan-Rendezvous.

      Zunächst nur ein paar Momente, dann von Tag zu Tag mehr Minuten. Küsse, Fummelei, Geflüster und Liebesschwüre ohne Ende. Und immer gibt es zum Abschied den kleinen Zettel mit ein paar Goethe-Worten. Ein Ritual seit dem Betriebsfest.

       Es schlug mein Herz, geschwind zu Pferde! Es war getan fast eh gedacht. Der Abend wiegte schon die Erde, und an den Bergen hing die Nacht.

      Samstag und Sonntag darf Marlene bei ihrer Freundin Emmy schlafen. Die Eltern haben ein Wochenendhaus am Dümmer. Emmy hat einen Fußballer von der Arminia, der schon eine eigene Wohnung besitzt. Und ein Auto. Emmy darf das Wochenende zum Ausgleich bei den Lendruscheits verbringen. Damit gibt es ein nahezu wasserdichtes Doppelalibi. Marlene und Manfred spielen zwei Tage Ehepaar. In Werthers Rucksack steckt ein ganzes Graubrot, eine Dose Rama-Margarine, ein Glas Erdbeermarmelade von Schwartau, ein Stummel Salami und eine Dreierpackung Ritex-Gefühlsecht. Nötig wäre eine Sechserpackung. Die beiden können einfach nicht voneinander lassen. Ständig fallen sie übereinander her und schaffen es, immer das Gleiche zu wollen, gesteuert von einer unsichtbaren, magischen Kraft. Dieses Mal fragt Manfred: „Heiratest du mich?“ „Ja! Ja! Ja!“ „Wann?“ „Warum nicht sofort?“ Die erste Liebe. Und dann auch noch eine fürs ganze Leben! Nicht einfach eine Schwärmerei, ein bloßes Ausprobieren oder eine Romanze. Hier haben zwei Menschen das Glück, den Richtigen für immer gleich beim ersten Mal gefunden zu haben. Mutter Lendruscheit sieht es ihrer Tochter Sonntagabend an. Marlene ist hundemüde, aber glücklich. Klammheimlich freut sich die Mutter für ihre Tochter – Vorhaltungen und Ermahnungen entsprechen daher einem vermeintlichen Pflichtprogramm. Aber Marlene kann punkten. Sie erzählt vom Gottesdienst in Damme und hat eine perfekte Nacherzählung der Predigt im Angebot. Fantasie hilft.

      Manfred macht die ersten Beobachtungen, wenngleich er sie nicht zu deuten weiß. Er tastet Marlenes Brüste und freut sich darüber, dass sie eher gewachsen, ja sogar fester geworden sind. Auch in ihrem Schritt gibt es Bemerkenswertes. Beim Streicheln über ihre Schamlippen kommen ihm diese runder und praller vor. Die zarte Wölbung ihres Bauches bemerkt er nicht. Erstaunlicherweise Marlene auch nicht. Ausgerechnet in der Mathestunde kommt ein deutlicherer Hinweis. Marlene steht an der Tafel und soll eine Gleichung lösen. Differentialrechnung in der elften Klasse, für Marlene kein Problem. Aber auf einmal wird ihr schummerig vor Augen. Später wird sie es als „schwarz“ beschreiben. Die Knie werden weich und es bleibt keine Zeit, sich noch rechtzeitig am Lehrerpult abzustützen. Sie sackt zusammen und kommt erst wieder zu sich, als sie schon auf dem Stuhl des Lehrers sitzt. Zur Schau gestellt vor der Klasse. Man könnte vermuten: als eindringliche Warnung. Zuhause spricht Mutter Lendruscheit zum ersten Mal mit ihrer Tochter über ein Thema, welches nun als Aufklärung leider zu spät kommt. „Wann hattest du denn zuletzt deine Tage?“ Und dann: „Erbarmen! Herr im Himmel, sei bei uns, beschütze uns, lass’ es kein Kindchen sein. Allmächtiger, sei gnädig mit uns armen Sündern jiib uns Stärke, jiib Hoffnung!“ Fromme Wünsche, aber alle vergebens. Es bleiben nur Tränen, Kummer und die schiere Ausweglosigkeit. Die Mutter weint die Nacht hindurch. Marlene kann nur noch schluchzen und zittern. Am nächsten Morgen: „Welch Unglück bringst du über uns! Der Vater wird dich zur Hölle


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