Der Katholische Bahnhof. Irmin Burdekat
und schaut über die Lesebrille zu dem unangekündigten Besucher. Er scheint über den Auftritt seines Sohnes nicht überrascht zu sein. „Hast du etwas mit dem Verschwinden von Lendruscheits zu tun?“ brüllt Manfred und ist außer sich. Aber die Wut gewinnt nicht die Oberhand. Er schafft es, vor dem fetten Arbeitstisch stehen zu bleiben. „Guten Tag, mein Sohn. Ich sitze hier seit Stunden über der konsolidierten Bilanz unserer Firmengruppe. Wer Bilanzen richtig lesen kann, weiß am Ende alles. Aber auf deine Frage konnte ich bisher nicht den kleinsten Hinweis finden. Was ist denn so interessant an Lendruscheits?“ Ein Vatermord? Wäre in diesem Moment nicht das, was die Vernunft empfiehlt, aber naheliegend. Manfred sieht die gusseiserne Leselampe auf dem Schreibtisch und spürt, dass sie jetzt auf dem Kopf des Vaters genau richtig platziert wäre. Grenzenlose Empörung und Abneigung kreuzen sich in den Blicken von Vater und Sohn mit der gleichen Menge an Desinteresse und Gefühllosigkeit. Aber zum Vatermord kommt es nicht, weil Manfred einfach schreit: „Du emotionaler Krüppel!“ Im Weggehen denkt er: „Was für ein mieses Schwein!“
So hab ich wirklich dich verloren? Bist du, o Schöne, mir entflohn? Noch klingt in den gewohnten Ohren ein jedes Wort, ein jeder Ton.
Man muss auch mal Glück haben im Leben! Schon bei der Begrüßung wusste ich es. „Hallo Ronald, haste mal ’ne Minute?“ Dennis Pretorius wollte was und kam mit einem riesigen Sack kleiner Brötchen in den Katholischen Bahnhof. „Warte mal einen Moment“, sagte ich strategisch und lief in den Clubraum, um dort absolut nichts zu erledigen. Dann kam ich wieder raus und fragte salopp: „Na, was gibt’s?“ „Hör zu, Alter, ich habe eine super Frau aufgerissen. Traumfrau sozusagen. Und ausgerechnet diese Schnecke steht auf die Arminia. Morgen ist das Pokalspiel, will sie unbedingt sehen. Ich habe ein bisschen auf die Kacke gehauen und gesagt: ‚Baby, da stehst du neben mir.‘ Verstehst Du? Ich brauche unbedingt deine Karte! Bitte, lass mich nicht hängen. Ich zahle einen Hunni!“ „Wieviel?“ fragte ich überrascht, und er meinte: „Zweihundert!“ „Bist du krank? Das ist das Spiel der Spiele. Wolfsburg, diese armselige Söldnertruppe, die blasen wir vom Rasen! Ein Schritt vorm Endspiel, und das soll ich deiner Meinung nach erst am nächsten Tag in der Zeitung lesen? Geh zum Arzt, Mann. Alleine für die Frage bekommst du Paragraph 20 StGB. Du spinnst total!“ Ich war ehrlich empört, geradezu entsetzt. Dieser Antrag war nicht nur unanständig, er war auch sittenwidrig. Jedenfalls in Fußballerkreisen. Dennis jammerte rum, erhöhte auf zweihundertfünfzig und stellte dann endlich eine vernünftige Frage. „Also komm schon, was ist dir die Karte wert?“ Ich ging in mich. Für die Idee, die dann kam, möchte ich mich ausnahmsweise loben. Besser ging es nicht. Ich sagte: „Gib mir die gesamte Kohle für das Buchprojekt. Steht mir ja sowieso zu. Mein Ehrenwort, dass ich es zu Ende schreibe. Dafür kriegst du die Karte. Umsonst, versteht sich.“ Zwei Stunden vor Spielbeginn kam er mit einem Scheck. Einundzwanzigtausend! Bedeutete die absolute Freiheit beim Schreiben. Übrigens, die Arminia hat die Partie 0:4 verloren. War klar.
Manfred Pretorius schafft es ohne zu heulen, das Firmengelände zu verlassen. Für ihn besteht nicht der geringste Zweifel. Wieder eine der perfekt eingefädelten Intrigen des Vaters, auf die er bei seinen Erzählungen am Abendbrottisch mit Stolz verweist. Wie auf seine intakten Seilschaften. Alte SS-Kumpel sitzen an allen möglichen Schaltstellen im Nachkriegsdeutschland. Lendruscheits sind weg. Garantiert durch die hinterhältige Hand des Alten Fabrikanten in Bewegung gesetzt. Und Manfred weiß sofort, sein Vater wird nicht den geringsten Hinweis liefern. „Für uns gibt’s immer was Besseres!“, eine häufig benutzte Floskel des alten Herrn. Breit grinsend vorgetragen. „Marlene war ihm nicht gut genug“, erkennt Manfred und beschließt: „Das büßt du mir!“ Auf dem Rad jagt er Richtung Sparrenburg. Die Nässe in den Augen könnte auch vom Fahrtwind kommen.
Die Sparrenburg hat einen schönen runden Turm. Von dort überblickt man die ganze Stadt. Für den letzten Blick im Leben geradezu ideal. Als es den Berg hochgeht und die Steigung ihm den Atem nimmt, schmeißt Manfred das Rad gegen eine Hecke. Er braucht es nicht mehr, und darüber hinaus ist es ab sofort auch nicht mehr Teil des Familienvermögens. Ja, Manfred ist nun hundertprozentig Werther. Hat der sich nicht auch das Leben genommen? Unglücklich verliebt und so? Ein super Vorbild für alles, was jetzt kommen soll. Ausweglosigkeit, Verwirrung und der unbeschreibliche Verlust des einzigen geliebten Menschen auf der Welt – da ist ein korrekter Selbstmord doch der naheliegende Schritt. Wie kommt man sonst damit klar? Manfred sieht zum Suizid keine Alternative. Dennoch bleibt ein Rest Pragmatismus handlungsbestimmend. Er wird aus dem Leben scheiden, der Entschluss steht fest. Aber wie? Zwei Faktoren spielen, bei aller selbstverordneter Konsequenz, eine Rolle. Erstens, wie macht man es stilvoll, und zweitens, wie minimiert man den körperlichen Schmerz? Die Entscheidung für den Turm der Sparrenburg ist somit nicht gedankenlos gefallen. Der Sprung geht über in einen zwar kurzen, aber dennoch berauschenden Flug. Aus dem Leben fliegen. Nicht schlecht. Danach werden die kleinen, abgerundeten und zu einem Pflaster zusammengelegten Findlingssteine ihren Job machen. Unnachgiebig hart werden sie Manfreds Körper zerschlagen, ohne ihn aus der Form zu bringen. Er wird von einer Sekunde zur anderen tot sein. Und wenn nicht, dann zumindest ohnmächtig und schmerzbefreit, falls das Herz noch eine Weile weiterschlagen will. Diese Gedanken vermitteln Zuversicht, und es bleibt die Frage auf der Strecke, wieviel Mut nötig sein wird. Er wird gleich springen und schließt schon mal die geliebte Lederjacke bis zum Hals. Und im Flug wird er, so laut es irgend geht, „Marlene“ schreien. Ja, „Marlene, ich liebe dich“. Genau dafür wird die Zeit reichen. Mehr gibt es ohnehin nicht zu sagen. Manfred Pretorius ist am Ziel. Der Turm. Er kennt ihn seit Kindertagen. Mit fünf Jahren, kurzen Beinen und Hosen ist er das erste Mal die Stufen hochgelaufen. Im Sauseschritt, wie der Großvater es beschrieb. Jetzt wird er gleich ruhig und achtsam jede Stufe nehmen.
„Montags ist der Turm geschlossen!“ Was soll dieses alberne Schild? Hier geht es um Leben beziehungsweise Tod! Durchkreuzt so eine banale Regelung nun das perfekt geplante Drama? Manfred steht fassungslos vor der schweren Holztür. Da schreibt ein sich in Pose werfender „Oberstadtdirektor“, dass der Turm geschlossen sei. Warum? Was steckt dahinter? Montags etwa keine Selbstmorde? Was denkt sich so eine Verwaltungs- kanone? Manfred stiert eine Ewigkeit auf das Schild und liest, welche Öffnungszeiten in den nächsten Tagen zur Verfügung stehen. Das sind Möglichkeiten, aber keine Alternativen. Einen Plan B hat er noch nicht. Nur ein weit geöffnetes Ventil: Manfred brüllt seinen Frust in die Landschaft. Jene bekannte braune Masse, die bei solchen Gelegenheiten meistens zitiert wird, muss auch jetzt herhalten. Sogar mehrfach.
Dann dreht er sich um. Vor ihm liegt der Hermannsweg, der in den tiefen Wald führt. Wenn nichts mehr geht, dann soll man wenigstens gehen. Laufen hilft immer. Einfach sich am Laufen halten. Die Beine bewegen, damit sie den Verstand beruhigen. Laufen, von irgendwo nach anderswo. Manfred stellt die Füße auf Automatikbetrieb ein und das Hirn so weit wie möglich ab. Einfach nur geradeaus trotten. Einem Weg folgen. Irgendwann wird der Weg schon zum eigenen. Die erste Stunde hebt Manfred den Kopf nicht ein einziges Mal. Gramgebeugt. Dann schaut er doch einmal hoch, folgt einem Stamm in dessen Krone, verweilt ein wenig in dem Astgewirr und überlegt, ob er hochklettern und von dort springen soll. Auf den Waldboden? Das kann er vergessen. Der ist zu weich. Aber der Stamm birgt eine Überraschung. Zunächst übersieht er das weiße H, den Hinweis auf den Hermannsweg über den Kamm des Teutoburger Waldes. Aber dann funkt es. Dieser Weg führt zum Hermannsdenkmal. Ein monumentaler Koloss, gewidmet einem Cherusker, der als Namensgeber und Sinnstifter teils für nationale, aber auch für demokratische Ideale herhalten musste. Genau – und dort gibt es eine Aussichtsplattform, ein Umlauf zu Füßen des Blechsoldaten. Mindestens dreißig Meter hoch. Eine ideale Selbstmörder-Absprungschanze. Jedenfalls ist das der Geistesblitz, der nun dem liebeskranken Werther-Nachfolger ein Ziel gibt, wenn auch ein weit entferntes. Mindestens fünfundzwanzig Kilometer hat er noch vor sich. Und eine dunkle Nacht, die bald dem Tageslicht den Garaus machen wird. Aber was sind das für marginale Problemchen. Hier geht es nicht um was Großes, nein, ihm geht es um das Größte. Sein Leben und ein Fanal! Das Ausscheiden aus dem Leben als maximal mögliche Strafe für, ja für wen eigentlich? Für den Vater? Vorrangig schon. Knapp dreißig Kilometer Chance, um die Sache nochmal von