Der Katholische Bahnhof. Irmin Burdekat
Eckes und geht hoch in sein Zimmer. Dort trinkt man nicht aus Gläsern, wenn man eine Flasche hat. Gegen achtzehn Uhr übernimmt Manfred Pretorius’ erster Vollrausch das Kommando. Neue Pläne, Ziele und Freunde sind im Anmarsch, der beste Beistand für die nächsten Jahre schläft bereits neben seinem Bett: die leere Flasche.
Der Klosterplatz ist Anlaufpunkt für alle, die offensichtlich aus dem System gefallen sind. Treffpunkt, Informationsbörse, Selbstbestätigungsbühne, Kontakthof und allem voran Trinksportzentrum. Dieser Platz wird für die nächsten zwei Jahre Dreh- und Angelpunkt im Leben von Manfred Pretorius sein.
Man sieht ihn nur noch selten ohne Flasche Bier in der Hand. Mittags taucht er in der Szene auf, gegen Mitternacht schläft er auf einer Parkbank ein. Taxifahrer sind vom Hause Pretorius angehalten, den Sohn einzusammeln, nach Hause zu fahren und die Fahrt der Filter- und Anlagenbau GmbH in Rechnung zu stellen. Mit kreativem Aufschlag, versteht sich. Diese Regelung hat der Alte Fabrikant diskret in Umlauf gebracht. Weniger diskret wickelt er den Besuch des Direktors von Manfreds Gymnasium ab.
Die nachfolgende Szene ist die einzige, bei welcher der Alte etwas sympathisch wirkt. Etwa fünf Wochen, nachdem Manfred nicht mehr in der Schule erschienen ist, taucht der Herr Direktor beim Alten Fabrikanten auf. Mit Termin. Aufgebracht gibt er der Empörung Ausdruck, dass seine Briefe in der Sache des Schulschwänzers Manfred Pretorius unbeantwortet geblieben sind. Wilhelm Pretorius hört sich den Sermon ruhig an und antwortet dann: „Mein Sohn hat ein Problem. Das werden Sie nicht lösen, und ich schon gleich gar nicht. Manfred braucht jetzt keine Schule, der braucht Zeit. Ich gebe sie ihm. Wenn Sie damit nicht klarkommen, melden Sie ihn einfach ab. Er wird sein Leben auch ohne Ihre Anstalt meistern, da bin ich mir sicher. Vielen Dank für Ihren Besuch.“
Wieviel mehr hätte dieser Vater für seinen Sohn tun können? Aber er tut es nicht. Weil er nicht will, nicht muss, nicht kann. Es fehlt ein Befehl. Naheliegende menschliche Reaktionsmuster scheinen ihm abhandengekommen zu sein. Wahrscheinlich vom Krieg zerschossen. Zwischen den Möglichkeiten, zu resignieren oder überheblich zu werden, gibt es für den Hauptsturmführer der Leibstandarte SS Adolf Hitler keine anderen Wege. Schon gar nicht den ins eigene Innere, in die Humanität oder ganz einfach in die Reflexion.
Wilhelm Pretorius kennt nur stark oder schwach. Und schwach bedeutet für ihn Untergang. „Schwächlinge können keine Firma leiten, Menschen Arbeit geben und sich im Dschungel des Konkurrenzkampfes behaupten.“ So denkt der Mann, und niemand kommt an ihn heran. Kein Wunder, dass solche Eltern ihre Kinder später, 1968, auf die Straßen und in den Widerstand getrieben haben. Streetfighting men, die Power to the people singen.
1960 ist Manfred achtzehn Jahre alt. Er wird erfasst und gemustert. Die Bundeswehr will wieder Soldaten, auch wenn es noch keine konkrete Front gibt, an der man sie verheizen könnte. Manfred ist zu schwach, um sich zu verweigern. Seine Fahne aus Hallertauerschem Hopfen und Herforder Malz ist nicht für einen Fahnenappell geeignet. Man wirft ihm böswillige Tauglichkeitsverweigerung vor und bestellt ihn erneut. Sein zweiter Besuch im Kreiswehrersatzamt ist noch desolater. Der junge Pretorius ist ungepflegt und orientierungslos. Der untersuchende Arzt diagnostiziert einen angehenden Alkoholiker, der wirres Zeugs redet: „Jungs, ich kämpfe für euch! Ich erschieße jeden, der uns zu nahekommt. Ich will Soldat werden! Bitte, bitte, nehmt mich auf. Ich mach mit! Ich bin dabei. Ich bin ein Killer!“ Niemand erkennt den ernsten Hintergrund seiner Worte. Er braucht Hilfe und spürt, dass ihm ein Tritt in den Arsch guttun würde. Disziplin. Einordnung. Ein geregelter Tagesablauf. Körperliche Betätigung. Gruppendynamik. Nun ja, jeder Punkt für sich genommen durchaus vernünftig und nachvollziehbar. Aber deshalb gleich Soldat werden? Geht’s nicht auch anders? Es geht! Dauert nur noch ein Weilchen: Erst kurz nach seinem zwanzigsten Geburtstag trifft Manfred seinen Retter. Kommt noch!
Zum täglichen Klosterplatzritual fügt er, ein paar Monate nach Marlenes unerklärlichem Verschwinden, ein neues hinzu, wenngleich schon viele Jahre alt. Sonntags nimmt Manfred wieder am gemeinsamen Mittagessen teil. Punkt zwölf Uhr läutet Mutter Pretorius im Flur eine Schiffsglocke. Dann erscheint der Alte Fabrikant im gedeckten Anzug mit korrekt gebundenem Windsor-Knoten, hochglanzgeputzten Schuhen, einer Wolke aus Rasierwasser und guter Laune. Seine Gattin trägt ein Kostüm und hat die Haare schön, dazu Lippenstift und etwas Rouge. Manfred erscheint wie immer – ungepflegt, häufig vor sich hin müffelnd. Die gesamte Kommunikation besteht aus einem nacheinander gemurmelten „Guten Appetit“. Manfred beobachtet den Vater aus den Augenwinkeln und hofft nach wie vor auf eine Erklärung zum Thema Lendruscheit. Der Gatte beobachtet seine Frau aus den Augenwinkeln und orakelt, wann sie sich totsaufen wird. Die Gattin beobachtet still ihren Mann und fragt sich, ob Frau Zirpins heute wohl ihre Tage hat – dann würde die Fahrt ins Büro an diesem Sonntag ausfallen und es wäre eventuell ein gemeinsamer Spaziergang drin. Vater und Mutter lassen den Sohn unbeobachtet, jedenfalls scheint es so. Das Essen ist wie jeden Sonntag vom Hotel Teutoburger Hof angeliefert worden. Frau Pretorius hat den Tisch gedeckt, die Haushälterin wird ihn am nächsten Vormittag abräumen. Nach dem Kompott fährt der Fabrikant zunächst zu Frau Zirpins und nach zwei, drei Stunden weiter ins Büro. Manfred läuft zum Klosterplatz und Frau Pretorius legt Patiencen neben einem stets halb gefüllten Glas ihres Seelentrösters.
Ist man als Gastwirt Drogenverkäufer? Mit diesem Quatsch muss ich mich immer wieder auseinandersetzen. Nervige Gäste versuchen, mir damit ein schlechtes Gewissen einzureden, ein Gespräch aufzudrängen oder einen Schnaps abzustauben. Den haue ich schon mal raus, damit sie Ruhe geben. Wenn ich auf den Blödsinn eingehe, sage ich: „In der Gastronomie werden keine Alkoholiker gezüchtet. Wir verwalten die höchstens.“ Die Trinkgewohnheiten eines abhängigen Säufers lassen sich mit dem Ablauf einer gesunden Kneipe nämlich gar nicht vereinbaren. In meinem Katholischen Bahnhof verkehrt nicht ein einziger Alkoholkranker! Dafür habe ich einen geschulten Blick. Ich sage es ständig: „Alkoholausschank dürfte nur unter Kontrolle von Fachleuten stattfinden!“ Und damit meine ich uns Wirte, damit das klar ist. Alkoholiker werden an Kiosken, bei Lidl, Aldi und Co großgezogen. Und den katholischen Brüdern Albrecht ist es scheißegal, wieviel Stoff sich ein Einzelner bei ihnen abholt. Die haben da kein Gewissen. Ich schon!
Manfred Pretorius ist soeben auf dem Klosterplatz angekommen, hat in die Runde gegrüßt und hält seine erste Flasche Bier noch vor dem Bauch an die Leder- jacke gedrückt. Ungeöffnet. Den Start der Sauferei zieht Manfred ein wenig hin, um sich zu beweisen, dass er nicht trinken muss, sondern nur trinken will. Der richtige Durst kommt sowieso erst nach der dritten Flasche. Vorher ist das Getränk eher unangenehm, weil es ihm zu bitter schmeckt. Da braucht es schon einen willensstarken Anlauf. Täglich. In diesem Moment kreuzt Ludwig Stahmer den Klosterplatz, im gleichen Alter wie Manfred und bis zur vierten Klasse sein Sitznachbar. Danach war Ludwig auf dem Altsprachlichen Gymnasium, während Manfred auf Wunsch des Vaters den mathematisch-naturwissenschaftlichen Weg einschlug. Die Jungen spielten bis zur Pubertät viel miteinander, dann gingen die Interessen auseinander und sie trafen sich seltener. „Hey, Werther, altes Haus, was läuft denn bei dir so?“ „Nichts Besonderes. Bin in einer Konsolidierungsphase.“ „Hä?“ „Na, eben bisschen abhängen und so. Und du? Machste noch Musik?“ „Klar! Ralf und Michael sind auch in Münster an der Uni, weil wir weiterspielen wollen. Wir haben jetzt sogar eine Sängerin in der Band. Die Sigrid Gehrels. Kennste die noch? Wohnte in unserer Gegend, ist ein bisschen jünger als wir. Studiert auch in Münster, Lehramt. Nur Peter Potthoff, unser Schlagzeuger, ist in Marburg. Macht Medizin. Soll da leichter sein. Ja Alter, falls du einen fürs Rührwerk kennst – immer her damit!“ „Warum nehmt ihr nicht mich?“ „Du spielst Schlagzeug? Seit wann?“ „Schon ewig!“ „Das ist ja super. Mensch, Werther, wusste ich gar nicht. Spiel doch mal bei uns vor. In zwei Wochen gibt’s Semesterferien, da sind alle in der Stadt. Wir üben bei Michael im Keller.“ „Klingt gut. Ich komme vorbei, versprochen!“ Manfred schaut Ludwig noch kurz hinterher, dann verschenkt er seine Flasche und geht zur Haltestelle.
Der Bus hält fast direkt vorm Filter- und Anlagenbau Pretorius. Im Sekretariat grinst er Frau Zirpins wissend an und sagt: „Ist er drin?“ Die Geliebte