Der Katholische Bahnhof. Irmin Burdekat

Der Katholische Bahnhof - Irmin Burdekat


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Hunger und, noch schlimmer, Durst ins Bewusstsein und mindern die Konzentration. Eine Wetterhütte am Wegesrand ist im letzten Dämmerlicht auszumachen. Dort hinein verzieht sich Manfred. Das Hotel zur langen Dämmerung? Nicht alles hier ist schlecht. Für ihn unsichtbar, aber absolut vorausschauend und die Lokalität in ein gutes Licht rückend ist ein kleines Holzschild über dem Eingang. Goethe-Hütte steht da tatsächlich. Ein gutes Omen. Denn schon wenig später fängt es zu regnen an. Ein Holzbrett am Sims sammelt das Wasser und schickt es als festen Strahl in die offenen Hände. Durst gestillt, Hunger vergessen, bleibt nur noch die langsam in die Knochen ziehende Kälte. Dagegen muss er anzittern, zusammengekauert auf einer harten Holzbank und gegen die Wände in eine Ecke gedrückt. Der Wind hat jede Menge Laub unter die Bänke geweht. Perfektes Isolationsmaterial. Auf die Idee, sich die Blätter überall in die Jacke zu stopfen, kommt er spät, aber nicht zu spät. Irgendwann gibt es sogar eine Portion Schlaf. Und dann die Erkenntnis, dass der Tod durch Erfrieren in jedem Fall ausscheidet. Der ist einfach unangenehm, weil er quält.

       Du versuchst, o Sonne vergebens Durch die düsteren Wolken zu scheinen: Der ganze Gewinn meines Lebens Ist, ihren Verlust zu beweinen.

      Bei Anbruch der Morgendämmerung bewegt Manfred seine nahezu steifen Glieder. Alles tut weh. Die ersten Schritte schmerzen nicht nur gewaltig, sie vermitteln ihm das Gefühl, schon halb tot zu sein. Aber das Leben will auch in diesem Zustand gelebt werden. Eine halbe Stunde später ist ihm warm, drei Stunden später ist er am Ziel. Der Grund für das Ziel ist nach wie vor unverändert, wenngleich weniger vehement. Vorher gibt es noch Wichtigeres zu erledigen. Der Kiosk am Denkmal hat Leibniz-Kekse und Sinalco. Egal was man plant, man soll es nicht hungrig erledigen! Selbst die irrste Tat gelingt nicht ungestärkt. Die butterzarte Bahlsen-Leckerei, prickelnd aufgeschäumt von Kohlensäure mit Orangengeschmack, bringt eine satte Zufriedenheit in den Körper, gegen die man sich kaum wehren kann. Mundgefühle, die sonnige Kindertage im Zoo mit dem Großvater in Erinnerung bringen. Das Sterbenwollen wird schwerer. Oben auf dem Balkon, über ihm der tonnenschwere Hermann, der in Wirklichkeit Arminius hieß und dessen Varusschlacht überall, aber garantiert nicht hier stattfand, oben schaut jeder zunächst fasziniert ins Land. Oben bleibt auch Manfred Pretorius nicht einfach stehen und springt. Dort geht man in die Runde, schaut in die Ferne und sieht, wie schön die Welt ist. Manfred dreht etliche Runden mit langsamen Schritten. Im Kopf dreht sich alles in vielfacher Geschwindigkeit. Was ist ein Leben ohne Marlene wert? Wo ist sie? Warum hat sie ihn verlassen? Hat sie ihn überhaupt verlassen? Wurde sie entführt? Mit Sicherheit!

      Die fröhlichen, geradezu übermütigen Laute einer auf den schönen Hermann zulaufenden Mädchenklasse dringen nach oben. Er hört Kichern, Rufe, das helle, kieksende Lachen einiger Schülerinnen, die sich nicht mehr um die Worte ihres Lehrers scheren. Sie haben ebenfalls ihr Ziel erreicht und wollen hinaufklettern, um wie alle seit 1875 ins Land zu schauen. Was interessieren die überfrachteten Inschriften am Fuße des Monuments, das patriotische Bürger einst mithilfe von Kaiser Wilhelm für nur neunzigtausend Taler errichten ließen? Manfred beugt sich zu ihnen hinunter, sieht die bunte Schar der quirligen Mädchenklasse, und in dem Moment weiß er – warum ausgerechnet erst dann? –, Marlene wird sich bei ihm melden! Diese plötzliche Gewissheit ändert alles. Vielleicht liegt schon eine Nachricht von ihr im Briefkasten? Oh nein, dann gerät der Brief womöglich in die falschen Hände! Das darf nicht sein. Er muss so schnell wie möglich zurück auf den Hausberg.

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      Ich berichte mal über meine erste Begegnung mit Emmy Schalkowski, geborene Stahlberg, der Jugendfreundin von Marlene. War ein Tipp von Herrn von Zegenhagen. Ohne heißen Brei: Die Lady traute mir nicht über den Weg. „Warum interessieren Sie sich ausgerechnet für Marlene Lendruscheit?“ Und: „Was wollen Sie da von mir?“ Das Ganze vorgetragen in einer Schnippischkeit mit Premiumzertifikat. Allerdings muss ich einräumen, dass ihr mein Äußeres für ihre bürger- lichen Kategorien eher gewöhnungsbedürftig erschienen sein musste. Vielleicht sollte ich mal wieder zum Friseur gehen. Mein Bartwuchs ist struppig, wenngleich nicht ungepflegt! Ach ja, ich trage häufig eine grüne Leinenjacke mit aufgenähten Taschen im Comandante-Design. Auch die Schiebermütze mit dem roten Stern vorne drauf hat nicht jeder. Ist alles völlig harmlose Touristenware, jedenfalls nicht militant. Brachte mir aber meinen Spitznamen ein: Fidel Gastro.

      Bei Emmy Schalkowski blieb ich trotzdem hart- näckig dran. Ich spürte schon in der ersten Sekunde, dass sie mehr wusste über den Verbleib von Marlene. Nach zwei, drei Telefongesprächen – immer war sie kurz davor aufzulegen – bin ich zusammen mit Ché-Daniel und einem Blumenstrauß zu ihr gelaufen. Kinder und Hunde, die Masche ist ja bekannt. Anstatt Hund gab es bei mir Blumen. Es waren Tulpen von der Tankstelle. Die helfen ebenfalls. Dachte ich zumindest. Sie öffnete die Haustür, fand Ché-Daniel „entzückend“ und hatte keine Zeit. „Geben Sie mir Ihre Telefonnummer. Ich melde mich!“ Immerhin. Dann machte sie sich noch über meine Visitenkarte lustig. „Ronald Stiegmann vom Katholischen Bahnhof? Was soll das denn bedeuten?“ Oh Mann! Kleingedruckt steht sogar noch „Die HERFORDER Zapfstelle für ganz ausgeschlafene Trinker“ drunter, aber das fiel ihr wohl nicht auf. Genau drei Wochen ließ sich die Dame Zeit. Dann lud sie zum Tee, und es gab sogar hausgebackenen Apfelkuchen ohne Sahne. Dieses erste Interview lief exakt verkehrt herum. Sie fragte mir Löcher in den Bauch, und ich musste immer wieder aus meinem Manuskript vorlesen. Trotzdem, steter Tropfen! Ich wurde erneut eingeladen und mit dem Satz verabschiedet: „Den ersten Brief von Marlene bekam ich etwa fünfzehn Jahre nach ihrem Abtauchen. Ich suche den Brief. Kommen Sie wieder, junger Mann, dann werde ich daraus vorlesen!“

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      Einen Brief für Manfred von Marlene wird es nicht geben. Das ist die Vereinbarung der Väter Pretorius und Lendruscheit. Man könnte auch sagen: das Diktat des Alten Fabrikanten. Manfred weiß nichts davon und hofft. Die Tage verbringt er in seinem Zimmer, meistens im Bett. Nachmittags, wenn alles ruhig ist im Haus, schleicht er in die Küche. Manchmal auch nachts. Hunger hat er keinen, aber das Essen unterbricht die Monotonie. Lediglich vormittags verlässt er zwischen zehn und elf Uhr das Haus, läuft auf dem Bürgersteig hin und her und fängt den Postboten ab. Schon nach wenigen Tagen reicht ihm das Kopfschütteln des Postbeamten aus einiger Entfernung, und er verkriecht sich zurück in seine Höhle in der dritten Etage. Dem Sonntagsbraten bleibt er fern und überhört die Glocke sowie die mehrmaligen Rufe von Mutter und Vater aus dem Erdgeschoss. Beiden ist der Weg nach oben zu weit und Manfred der Weg nach unten eine Qual. Zwei Wochen gehen so ins Land. Dann weist Frau Pretorius dem Leben ihres Sohnes eine neue Richtung, eine sinnlose zwar, aber wer auf Berge will, muss vorher durch Täler. Es ist ein später Vormittag. Manfred kommt vom Wieder-mal-keine-Post-Kopfschütteln vor dem Haus in den Flur. Da steht sie.

      „Bitte, Manfred, komm einmal herein zu mir. Ich möchte mit dir reden. Setz’ dich auf den Sessel da. Warte – hier, nimm ein Glas von dem Kirschlikör. Der tut gut, nicht wahr?“ Apathisch riecht Manfred an dem Likörkelch, dann schüttet er die Ladung hinunter, ohne sich auf den Geschmack zu konzentrieren. Er drückt das Kinn auf die Brust und fühlt die sämige Flüssigkeit in sich hinablaufen. Der Alkohol verbreitet ein leichtes Brennen im Hals, aber dann kommt doch der süße Kirschgeschmack ins Bewusstsein. Frau Pretorius hat wirklich nicht alle Tassen im Schrank, denn schon steht sie wieder mit der geöffneten Flasche neben ihrem Sohn und schenkt nach.

      Jetzt behält Manfred den Eckes Edelkirsch eine Weile im Mund, schiebt ihn hin und her und schluckt ihn dann langsam in kleinen Mengen hinunter. Diese Prozedur braucht keine Worte. Mutter und Sohn in stillem Beisammensein, ohne Augenkontakt, nur in Gedanken versunken. Dann rafft sich Frau Pretorius doch auf und sagt: „Ich weiß, wie es dir geht“, nimmt die Flasche und schenkt nach.

      Manfred gibt sich einen Ruck. Die angetrunkene Mutter erschrickt. „Wohin hat der Alte die Lendruscheits abgeschoben? Er steckt doch dahinter, oder?“ Bevor sie antwortet, füllt sie ihr Glas noch einmal halb voll, wie sie immer nur halbe Gläser trinkt. Das Glas ihres Sohnes gießt sie voll. „Manfred, ich weiß es nicht. Glaub mir. Wir reden kaum miteinander. Hattest du etwa ein Verhältnis mit der kleinen Lendruscheit? Habe ich mir doch gedacht. Kleines Flittchen. Aber niedlich, ja ja. Ach Gott,


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