Der Katholische Bahnhof. Irmin Burdekat

Der Katholische Bahnhof - Irmin Burdekat


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auf die Rechnung irgendetwas Absetzbares schreiben. Die wissen schon, wie das läuft.“ „Danke!“ Manfred dreht sich um und realisiert, dass er soeben zum ersten Mal seit zwei Jahren seinem Vater in die Augen geschaut hat. Der Sohn schließt die Tür und der Alte Fabrikant lässt sich in seinen Schreibtischstuhl fallen. „Na bitte“, sagt er und genehmigt sich zur Feier des Tages einen Cognac, in den er die fette Zigarre eintaucht, bevor er sie anschneidet und genussvoll in Brand setzt.

      Das Schlagzeug-Set wird nachmittags geliefert. Zeit genug, um vorher noch eine neue Wildlederjacke anzuprobieren und zurücklegen zu lassen. Dann inspiziert er die Kellerräume der Villa Pretorius. Der Raum vor dem Heizungskeller ist warm und trocken, wenngleich es nach Heizöl riecht und in unaufgeräumten Regalen all die Sachen vor sich hingammeln, die man zunächst aufbewahrt, um sie dann Jahre später wegzuschmeißen. Auf die Frage: „Haben wir einen alten Teppich?“ sagt Mutter Pretorius: „Alle unsere Teppiche sind alt. Und wertvoll!“ Nach kurzer Diskussion rollt Manfred drei pakistanische Buchara-Läufer aus dem Gästezimmer zusammen und verlegt sie nebeneinander im Keller. Der Plattenspieler aus der dritten Etage gesellt sich ebenfalls dazu und wird in das hölzerne Radio des verstorbenen Großvaters gestöpselt.

      Am ersten Tag übt Manfred fünf Stunden, dann ist ein Finger blutig. Sein Drum Kit besteht aus einer Bass Drum mit Fußmaschine, einer Snare, einer Hi-Hat, einem Crashbecken sowie einer Stand-Tom. Auf dem Fell der großen Trommel steht vorne Ludwig, ein sehr gutes Omen. Am nächsten Tag hat der Drummer Boy Muskelkater und Pflaster um die Finger. Trotzdem übt er mit Unterbrechungen fast acht Stunden. Gegen den neuen Krach im Haus trinkt Frau Pretorius mit erhöhter Schlagzahl an. Manfred bleibt abstinent und senkt damit den Ausstoß seiner Stammbrauerei. Die unsichtbaren Schwielen in seiner Leber wechseln nun zu sichtbaren in den Händen. Nach zwei Wochen könnte er bei Buddy Holly, Chuck Berry, Elvis Presley, Fats Domino oder den Searchers einsteigen. Ihre Stücke begleitet er originalgetreu. Zehn Jahre später wird so ein Wunder unmöglich sein, weil Drummer wie Keith Moon oder Ginger Baker die Standards um ein Vielfaches nach oben trommeln.

      Herr Abel, Gärtner bei Pretorius, transportiert Manfreds Schlagzeug in seinem Goliath Kombi – „Aus dem Hause Borgward!“, wie er gerne bemerkt – zur ersten Probe mit der Band. Ralf nörgelt: „Was hast du denn für ’n Timing drauf?“, kann es aber nicht weiter begründen. Die anderen sind begeistert. Die chromblitzende Krachmaschine macht Eindruck. Manfred gehört ab sofort dazu. „Wie heißen wir denn?“, will er vernünftigerweise noch wissen. „Ach du Scheiße!“, durchfährt es Ludwig. „Solange Peter Potthoff dabei war, nannten wir uns Pott Hope. Und jetzt?“ Nach einer Stunde Musik brechen nun zwei Stunden Brainstorming an. „Der Name einer Band ist die halbe Miete!“, weiß Michael. Alle erkennen den Ernst der Lage. Sigrid will was Provokantes, Ralf was Kompetentes, Michael was Logo-fähiges und Ludwig was Lustiges. Tausend Namen schwirren durch den Keller. Der neue Schlagzeuger hält sich zurück, bis Ludwig ruft: „Ey, Werther, schläfst du schon?“ „Genau, sag auch mal was! Streng dich gefälligst an!“ Typisch Ralf. „Jaaa…“, dehnt Manfred, und die Spannung wächst. „Wie wär ’s denn mit Sigrid Service?“ „Secret Service? Nicht schlecht!“ Es dauert, bis alle kapieren, aber dann gibt’s Gejohle. Manfred Pretorius ist der neue Drummer von Sigrid Service. Und endlich wieder ein wenig ausgeglichen.

      In Biermanns Weinstube feiert sich die Gruppe am Abend selber. Karrierepläne werden geschmiedet, das Repertoire diskutiert und Auftrittsorte auf die Wunschliste gesetzt. Biermanns Weinstube liegt direkt am Klosterplatz. Für Manfred unangenehm. Er spürt die Nähe zum Zentrum seines Desasters. So fällt es ihm nicht schwer, den Stillen zu geben und bei Cola zu bleiben. „Trinkst du nix?“, will Ralf irgendwann wissen. „Doch, klar, sowieso. Aber ich hatte eine Grippe. Antibiotika. Kein Alkohol. Jedenfalls im Moment. Verstehst du?“ Dann winkt er schnell der Bedienung. „Noch ’ne Runde auf mich.“ Sigrid ist als Erste beschwingt. Sie umarmt alle, nennt sie „meine Boys“ und sieht einfach rattenscharf aus. Gott sei Dank hat sie keine Starallüren. Wäre mit ihrem Stimmchen auch etwas übertrieben. Sie ist aber die Mutter der Kompanie und damit ein Halt für alle. Besonders für den Drummer. Die nächsten Tage üben sie voller Enthusiasmus und werden besser. Fast schon gut. Bis das Soundproblem Thema wird. „Werther, Mann, du trommelst mir die Trommelfelle kaputt: Kannst du nicht leiser spielen?“ „Kannst du die Gitarre nicht lauter drehen?“ Nee, geht nicht. Nicht mit den mickrigen Boxen. Träume von Amps, also Gitarrenverstärkern, Bass-Boxen und Gesangsmikrofonen geistern durch die Köpfe. Eine Gesangsanlage wäre die Krönung. Bis auf Manfred wissen alle, wie es geht – wie es gehen könnte. Das Wort vom Lottogewinn macht die Runde, dann übernehmen die studentischen Budgets wieder die Macht in der Realität.

      Der nächste Sonntag mit Hirschragout, Rotkohl, Klößen und einer Extraladung Soße, die der Vater Tunke nennt, startet pünktlich um zwölf. Der Junior erscheint frisch gewaschen, rasiert, präpariert und in seiner neuen Wildlederjacke. Er erzählt von seiner tollen Band und beschreibt in korrekter Wiedergabe die technischen Defizite. Beim Alten Fabrikanten verfängt sich das Wort „Anlage“ und bleibt hängen. „Wenn eine Anlage fehlt, dann muss man sie beschaffen, oder?“ „Meine Meinung!“ „Ich denke drüber nach.“ Jetzt bloß keine Zeit verlieren mit Diskussionen, für die ihm Lust und Verständnis fehlen. Frau Zirpins wartet, will genommen werden und dann ihr Rhabarber-Baiser auftischen. Das Baiser ist gekaufte Konditorware. Die kleinen Mitbringsel des Chefs kommen häufig vom Juwelier. Nur der Körpereinsatz im Bett ist noch beste Hand- arbeit. (Den Begriff „mundgeblasen“ verbietet der Verleger.)

      Ein paar Tage später findet Manfred einen Brief seines Vaters auf dem Vestibül im Flur:

      Manfred, besorge einen Kostenvoranschlag für Anlagen und Geräte, die nötig sind. Ich werde dann nachverhandeln.

       Die Rechnung muss durch die Buchhaltung!

       Also richtig getextet! Zwei Bedingungen:

       1. Alles bleibt unser Eigentum!

       2. Ich dulde keine Auftritte deiner Hottentotten- Band im Umkreis von 30 km rund um die Firma!

       Du hast unserem Ruf bereits genug geschadet.

       Vater

      Manfred ist niedergeschlagen. Die anderen Mitglieder von Sigrid Service rasten aus, können das Glück nicht fassen. „Ist doch super, Werther, dann spielen wir eben in Münster. Mit dem richtigen Equipment rollen wir dort die Szene auf.“ „Und ich?“ „Mann, Werther, komm doch mit nach Münster!“ „Und was soll ich da außer trommeln?“ „Zum Beispiel studieren.“ „Ohne Abi?“ „Kannste doch nachmachen. Abendschule und so.“

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      Parry Sound, 15th October 1975

      Liebe Emmy, ich traue mich endlich,

      dir zu schreiben. Sorry, sorry.

       Hoffentlich erreicht dich dieser Brief an

      die Adresse deiner Eltern.

       Falls nicht, ist es besser, wenn ich nicht zu viel erzähle. Kann ich dich irgendwo anrufen?

      Schreibe mir doch bitte deine Telefonnummer, dann melde ich mich bei dir.

       Ich denke oft an Dich!

       Liebe Grüße

       Dein Marlenchen

      P.S.: Nicht mehr Lendruscheit. Gott sei Dank!

Icon Ahornblatt

      Dieses Mal gab es bei Emmy Schalkowski Sahne zum Apfelkuchen. Hatte ich mitgebracht. Und Ché-Daniel. Es war mein Nachmittag mit ihm und ich wollte nicht absagen. Hanna nutzt sowas nur aus und ich bin dann wieder der Unzuverlässige. Außerdem war der Kleine für die Stimmung eine Bereicherung. Frau Schalkowski kramte altes Spielzeug raus und war voll im Enkelmodus. Dann zeigte sie mir den ersten Brief von Marlene, von dem ich mir mehr versprochen hatte. Ich fragte: „Parry Sound? Wo liegt das denn?“ Ah, in Kanada. Nicht schlecht. Natürlich war ich pfiffig genug, mir ihren neuen Nachnamen zu merken. War oben rechts eingedruckt. Ich versuchte sogar, die angegebene Telefonnummer zu behalten.


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