Anna der Indianer. Livia Anne Richard
während der Beerdigung heute noch zu steigern wäre, hat nun wirklich niemand gerechnet. Man hat sich gleich nach Verlassen des Friedhofareals hinlänglich über den Vorfall ausgetauscht und zuletzt im allgemeinen Konsens die These aufgestellt, dass Annas Lachen eine typische Überreaktion darstelle, welche in Schockmomenten eintreten könne. Lachen statt Ohnmacht, das kann man irgendwie einordnen. Jetzt aber steht der Film still, und die Münder bleiben offen.
Was habt ihr denn?, will Anna wissen.
Da entscheidet sich einer, den Inhalt in seinem Mund endlich transportfähig zu zerkleinern. Wie der kaut und schluckt, ist nun überhaupt die einzige Bewegung, das einzige Geräusch im Saal. Nach erfolgreichem Herunterschlucken sagt er sinngemäss:
W – wo – wer?
Anna sitzt in der Badewanne. Mama war grosszügig mit dem Badeschaum – Milch ohne Ende. Anna ist der Milchmann, und sein Laden läuft auf Hochtouren. Ständig klingelt es an der Tür des Milchmannladens, er hat alle Hände voll zu tun: Milch abfüllen – acht Liter will die Kundin –, schimpfen, weil sie die Milch nicht richtig entgegennimmt und das Halbe verschüttet, als Kundin reklamieren, weil man von der Kassiererin zu wenig Geld herausbekommt, als Kassiererin entgegnen, dass das gar nicht stimmt. Es ist ein emsig Treiben. Anna ist Milchmann, Kundinnen und deren Hunde und Kinder sowie Kassiererin in Personalunion. Sehr bald hätte es wohl einen kleinen grossen Krieg gegeben, doch da klingelt es an der Tür. An der richtigen Tür diesmal.
Mama, Türe klingelt. Ich geh öffnen!, schreit die Fünfjährige. Aus dem Wohnzimmer kommt Mamas Stimme, die vorher als Gemurmel eines Telefongesprächs wahrnehmbar gewesen ist, nun deutlich lauter:
Nein, Schatz, es hat nicht geklingelt, du bleibst schön in der warmen Badewanne.
Es ist zu spät. Anna ist jetzt Anna und schon über den Badewannenrand geklettert. Splitternackt und überall Häufchen von weissem Badeschaum hinter sich lassend, rennt sie durch den Flur über den grün-braunen Teppich Richtung Haustür. Dort stellt sie sich auf die Zehenspitzen, streckt den kurzen Arm und die kleine Hand mit ihren vom warmen Wasser aufgedunsenen Wurstfingerchen aus und zieht die Türfalle herunter. Ein eisiger Wind treibt ihr ein paar Schneeflocken entgegen.
Vor ihr steht ein kleiner Junge, exakt gleich gross wie sie. Er ist sehr ernsthaft gekleidet: schwarz lackierte Halbschuhe, ein weisses Hemd, eine schwarze Fliege, darüber ein schwarzer Anzug, alles frisch aufgebügelt. Das Erstaunlichste aber ist der Kopf, der schmale, sich zur Nase hin zuspitzende Kopf, aus dem zwei wachsame, bernsteinfarbene Augen freundlich zu Anna hingucken. Du siehst am Kopf ja aus wie ein Fuchs!, ruft Anna aus und lacht. Der Fuchs lacht nicht, er kommt ihr bis zur Türschwelle entgegen und streckt die Hand aus. Seine Hand trägt einen feinen, rötlichen Flaum.
Ich bin Ander.
Ich bin Anna.
Weiss ich.
Sie schütteln sich feierlich die Hand, lang, heftig und unter Zuhilfenahme der ganzen Arme, bis eine Art Wippe entsteht, eines ist immer in der Luft und das andere am Boden. Dabei schauen sie sich mit zusammengekniffenen Lippen in die Augen.
Anna, Himmel! Was tust du da, du erkältest dich doch!
Mama rennt ins Bad, kommt mit einem grossen Frottiertuch zurück und legt es um ihre Tochter.
Was führst du denn da für einen Tanz auf? – Siehst du, da ist niemand – ab ins Bad mit dir.
Mama will die Türe schliessen, doch Anna stellt sich neben Ander auf die Türschwelle.
Doch Mama, schau doch! Da ist Ander.
Mama schaut. Und ist nun ernsthaft besorgt. Sie befühlt die Stirn ihrer Tochter, die ist sehr warm, doch das kann auch von der Hitze des Badewassers herrühren. Sie drückt ihre Lippen auf Annas Nacken – nein, Fieber nein.
Komm, mein Schatz – rein mit dir jetzt.
Komm, Ander – rein mit dir jetzt, echot Anna.
Ander steht schon in der Wohnung, ohne dass Mama ihn beachtet. Kopfschüttelnd schliesst sie die Tür.
Im Badezimmer wird Anna von Mama zurück in die Badewanne gehievt. Anna staunt: Ander ist noch klein, aber auch schon gross, er nimmt ganz allein einen Sprung direkt ins Wasser.
Jetzt werden deine Kleider ja ganz nass!, lacht Anna.
Wessen Kleider?, will Mama wissen.
Mehr Schaum!, verlangt Anna. He – nicht über den Kopf von Ander schütten!
Mama muss sofort zurück ans Telefon. Sie ist schon die ganze Zeit am Telefon. Sie muss wohl vielen Leuten davon erzählen, dass Annas Papa seit gestern nicht mehr da wohnt. Mama hat das beim Abendessen gesagt, etwas von Streit, und sie müssten sich trennen. Anna ist darüber weder besonders traurig noch besonders glücklich. Papa war sowieso nicht oft da. Papa arbeitet bei einer Bank, und er muss oft in andere Länder reisen. Anna hat mit Mama so ein tierliches Gefühl, das sie mit Papa nicht hat. Wenn es also schon sein muss, ist es besser, dass Mama bleibt und Papa geht.
Marc natürlich ist der Erste, der erkennt, dass hier nun, warum auch immer, zwei Stühle nebeneinandergestellt werden müssen. Anna setzt und bedankt sich bei Ander, der ihr aufmerksam den Stuhl unter ihren leicht runder gewordenen Hintern schiebt. An ihrem fünfzigsten Geburtstag hat Anna beschlossen, dass es das Privileg des älter werdenden Indianers sei, nun gemütlich zu werden. Seither hat sie sämtlichen Foltermethoden der Sportindustrie den Rücken zugedreht. Das Geld, das sie nun nicht mehr für den Kraftraum ausgibt, spendet sie jedes Jahr an Médecins sans frontières. Anna findet alles Grenzenlose grundsätzlich unterstützungswürdig. Die einzige Folterung, die sie zu speziellen Anlässen – zunehmend: Beerdigungen, abnehmend: alles andere – noch freiwillig über sich ergehen lässt, ist diejenige der Schuhmodeindustrie. Sie spricht in diesem Zusammenhang von seniler Resteitelkeit.
Marc begrüsst Ander höflich, indem er mit der Hand ins Leere schüttelt. Anna und Marc kennen sich von Kindesbeinen an, aus dem Indianer- und Cowboyspiel, aus der Bauecke im Kindergarten und aus vielen gemeinsamen Abenteuern.
Möchte Ander auch etwas essen?, erkundigt Marc sich nun bei Anna.
Frag ihn selber, er ist gross genug, erwidert Anna.
Sie dreht sich zu Ander um. Der zieht beide Brauen hoch. Jetzt weiss es Anna auch wieder.
Ach so, ja, nein. Wir teilen uns einen Teller.
Ihr teilt euch einen Teller, schön, Anna, wunderbar.
Marc streicht Anna mit beiden Händen langsam über ihre Schultern.
Der Saal ist noch immer gespenstisch still, so als wären gar keine Gäste da. Man beobachtet das sonderbare Treiben, und jeder versucht, sich wenigstens halbwegs einen Reim zu machen. Sicher ist nur, dass man hier einer plötzlich eingetretenen Form von Irrsinn oder Demenz beiwohnt. Vermutlich einer Kombination von beidem. Nico hat sich letzten Sonntag schliesslich auch auf ungeheuerliche Weise von dieser Welt verabschiedet.
Am Morgen steht er auf wie immer, zieht sich den Bademantel über das Pyjama, kommt vor sich hin pfeifend in die Küche, küsst Anna auf die Stirn, schnappt sich seine schwarze Tasse mit der gelben Aufschrift Das Gesicht ist das Protokoll des Charakters (ein Geschenk Annas) und braut einen doppelten Espresso mit viel Milch.
Er setzt sich an seinen Platz am Küchentisch, in der einen Hand die Tasse, in der anderen die Zeitung. Anna liest in Urs Widmers «Die Amsel im Regen im Garten», raucht dazu, trinkt den dritten Kaffee, ist gerade beim Satz Karl steht im Spagat über der Gletscherspalte. Ich sehe …, als Nico sie beim Lesen unterbricht und fragt: Hast du gut geschlafen?, einen kräftigen Schluck Kaffee nimmt und stirbt.
Ja, danke, du auch?, sagt Anna, ohne aufzublicken.
Sie hat auf ihre Gegenfrage keine Wortmeldung von Nico erwartet. Sie weiss, dass es Nico überhaupt nicht interessiert, wie sie geschlafen hat. Ebenso wenig hat er den Drang, über seinen eigenen Schlaf zu berichten. Floskeln sind bei Nico inexistent. Ausser, wenn er sie manipulativ einsetzt. Sonst sagt er immer nur dann etwas, wenn er zum Schluss kommt, dass das Nichtmitteilen seiner