Anna der Indianer. Livia Anne Richard

Anna der Indianer - Livia Anne Richard


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      Wenn also eine Floskel kommt wie Hast du gut geschlafen?, kann Anna sicher sein, dass Nico nur ihre Gemütsverfassung zu vermessen versucht im Hinblick auf eine total andere Angelegenheit. Und sie kennt die andere Angelegenheit: Die Tonlage ihrer Stimme und die Anzahl der Worte in ihrer Antwort hätten Nico dann je nachdem dazu bewogen zu fragen, ob es ihr etwas ausmachen würde, wenn er heute den ganzen Tag im nahegelegenen Zoo verschwinde, um Affen zu malen. Im Subtext von Annas Ja, danke, du auch?, war nichts à la Eigentlich habe ich nicht gut geschlafen, aber es interessiert dich ja sowieso nicht, und auch sonst geht es mir nicht besonders gut.

      Nein, es war ein authentisches Ja, danke, du auch? Also würde er gleich kommen mit seinem Affen-Anliegen.

      Nico liebt das Malen, und er liebt die Affen. Seine Lieblinge sind die Orang-Utans. Er hat eine riesige Sammlung an Affenaquarellen und Skizzen. Sein Leben lang hat er abstrakt gemalt und gut davon gelebt, heute mit etwas über siebzig arbeitet er nicht mehr, um zu verkaufen, sondern einfach, um zu malen. Nico findet, Kunst machen zum Selbstzweck sei der grösste Luxus überhaupt. Seine Werke stapeln sich im sonnendurchfluteten Atelier im ersten Stock. Er malt also Affen und findet, dass deren Intelligenz evolutionstechnisch betrachtet auf einem viel unbedenklicheren Niveau stecken geblieben sei als die der Menschen. Er kann den Affen stundenlang zuschauen und bewundert sie für ihre Unschuld. Mit ihnen muss man auch nicht reden. Dass die Affen nicht reden können, hindert sie daran zu lügen. Nico hasst Lügen. Besonders hasst er lügende Politiker. Die ihre Unwahrheiten in der Welt herumproleten mit dem einzigen Ziel, ihre persönliche Macht auszubauen. Und wenn dann einer von ihnen optisch gar noch seinen Lieblingsaffen gleicht, ist das unerträglich. Eine Schande für die Tiere.

      Da Anna also keine Antwort von Nico erwartet, blickt sie gar nicht erst auf, sondern liest einfach weiter: … in den blauen Abgrund, als Karl mich mit einem Ruck auf die andere Seite holt.

      Da kracht Nicos Kaffeetasse zu Boden. Sie zerschellt in drei Stücke, der Kaffee ergiesst sich auf dem hellen Parkettboden, sucht den Weg in Ritzen und Fugen. Anna schaut zuerst, dem Lärm folgend, auf den Boden, dann zu Nico hoch.

      Was machst du denn da?

      Nico sitzt auf untypische Weise nach hinten zusammengesackt auf seinem Stuhl, die Arme hängen schlaff am Oberkörper herunter, das Kinn tief auf der Brust, der Mund leicht geöffnet, ein kleines Rinnsal Kaffee fliesst aus seinem Mundwinkel. Die Augen sind geschlossen. Anna sieht es sofort. Sie tut nichts. Es gibt nichts zu tun. Dann meint sie:

      Weiss ich. Ich weiss, dass du heute zu den Affen gehen möchtest. Kein Problem.

      Anna bleibt eine Minute, vielleicht zehn, neben Nico sitzen. Dann erhebt sie sich. Sehr langsam. Streicht sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Geht zu der Rolle Haushaltpapier, links vom Spülbecken. Rollt sechs Blatt Haushaltpapier ab. Trennt jedes Blatt vom anderen. Geht zurück zum Tisch. Wischt mit dem Papier den Boden auf. Fährt um Nicos nackte Füsse herum. Hebt die drei Scherben vorsichtig auf.

      Sie weint tonlos. Sie wischt die Tränen nicht weg.

      Sie rückt ihren Stuhl und setzt sich zu Nico hin, so nahe es geht. Schaut ihn an. Sieht den grossen Schädel. Sieht die geschlossenen Augenlider. Sieht die leicht abstehenden Denkerohren. Sieht das Muttermal über seinem Mund. Sie nimmt seine Hand. So sitzen sie, Hand in Hand, bis die eine kalt ist.

      Anna erhebt sich, öffnet alle Fenster und schickt Marc eine SMS. Nico ist tot. Bitte komm. Marc kommt sofort.

      Natürlich teile ich mir keinen Teller mit jemandem, der gar nicht da ist, ruft Anna all den Perplexen im Saal zu. Jetzt habe ich euch aber erwischt.

      Auf Nico, ruft Marc. Auf alle unsere Verstorbenen, auf Anna, auf uns, auf das Leben!

      Die Erleichterung der Trauergäste ist dergestalt, dass dem Wirt am Ende der Wein ausgeht.

      Komm, wir spielen Milchmann, fordert Anna. Ich bin der Milchmann und du bist die Kassiererin und alle Leute, die einkaufen kommen.

      Nein, ich bin der Milchmann und du bist alle Leute, die einkaufen kommen, kontert Ander.

      Ich will aber der Milchmann sein. Ich bin immer der Milchmann!, schreit Anna.

      Psssst – was ist denn los, Anna, was willst du? Mama steckt den Kopf durch die Tür.

      Ich will der Milchmann sein.

      Na, dann sei ihn doch und mach nicht so einen Krach.

      Geht nicht, weil Ander will auch der Milchmann sein.

      Wer ist denn dieser Ander, Liebes?

      So bist du nicht mehr mein Freund. ICH WILL DER MILCHMANN SEIN!

      Anna, schrei nicht so rum!

      Will, will, will. Du führst dich auf wie ein kleines Mädchen. So helfe ich nicht mehr baden.

      Ander ist im Begriff, aus der Wanne zu steigen.

      Ich bin kein kleines Mädchen. Ich bin gross. Ich komme im nächsten Jahr in den Kindergarten.

      Merkt man nicht.

      Bleib da! Also gut, du kannst ein bisschen der Milchmann sein.

      Ander hat jetzt eine blöde Siegermiene.

      He, du brauchst viel zu viel Platz, schnauzt Anna.

      Mit wem sprichst du, mein Schatz?

      So, Herr Milchmann, geben Sie mir bitte acht Liter von der weissen Milch und nichts verschütten.

      Es gibt einen Grund, warum Anna mitten am Tag in der heissen Badewanne sitzt. Sie hat vorher nämlich schon im eisigen Bach gelegen. Beim Indianerspielen hat sie wie immer die Squaw spielen müssen. Wenn die Männer in den Kampf ziehen, muss sie im Zelt warten. Das nervt gewaltig und ist langweilig. Das Zelt hat Annas Nonna genäht. Es hat fünf lange Bambusstangen und darum herum einen rötlichen Stoff. Darauf Tiere, sogar einen Büffel. Man kann das Zelt mit einem Reissverschluss schliessen, und es hat ein kleines Fenster aus gelbem Stoff, das man öffnen kann. Nonna hat an alles gedacht.

      Einmal ist Marc, der immer der Chefindianer ist, nämlich der Winnetou, einmal ist der nur zum Schein mit in den Krieg gezogen. Plötzlich steht er wieder da, schiebt Anna ins Zelt und schliesst den Reissverschluss von innen. Dann sagt der Krieger zur Squaw: Lass mal die Hose runter. Die Squaw will nicht, und da hilft der Krieger etwas nach. Das Gerangel im Zelt ist wild, und als der Krieger der Squaw Hose und Unterhose bis zu den Knien heruntergezogen hat, um in Augenschein zu nehmen, wovon alle nicht sprechen, verlangt die Squaw, dass er dasselbe auch tun müsse. Doch der Krieger ist feige und will nicht. Da klemmt ihn die Squaw so lange in den Hals, bis der Krieger seinerseits die Hose herunterlässt, und zwar exakt bis zu den Knien. So stehen die beiden nun eine Weile da. Bis Anna meint: Deins sieht blöd aus, und ihre Hose wieder hinaufzieht.

      Und dann kommt Old Shatterhand mit seinen Männern und will die Squaw verschleppen und heiraten. Aber Winnetou und seine Indianer sind dagegen. Beide Mannschaften zerren an der Squaw herum, es ist eine fürchterliche Schlacht, die Krieger sind von Kopf bis Fuss schmutzig von der knapp schneebedeckten nassen Erde, in der sie sich wälzen. Da ruft Jans Mutter: Wer möchte heissen Tee und Güezi? Alle Cowboys und Indianer lassen gleichzeitig von der Squaw ab, die sich allzu abrupt in einer Rundum-Gegenwehr ohne Widerstand befindet. Die Squaw stürzt in den Bach, der Kopffederschmuck schwimmt davon, und fast heult sie los, weil sie sich im niedrigen Wasser die Hand an einem Stein aufgeschlagen hat. Du musst sofort nach Hause zu deiner Mama gehen, Anna!, ruft Jans Mutter. Statt Güezi gibt es jetzt eine heisse Badewanne, schimpft Mama.

      Der kleine Bach, der bei Unwettern zum reissenden Fluss werden kann und auch schon einmal den unteren Stock von Annas Elternhaus geflutet hat, plätschert mitten durch die Wohnsiedlung. Anna hat es geliebt, damals, als das Wasser ins Haus kam.

      Sie steigt sofort in den Estrich, holt ihr kleines Gummiboot herunter und befiehlt dem Vater, es aufzupumpen. Der hat aber gerade andere Probleme, und warum nun alle mit Kesseln Wasser aus dem Haus tragen, jetzt, da man darin endlich hätte Boot fahren können, ist Anna ein Rätsel.

      Links vom Bach liegen die Häuser nicht


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