Anna der Indianer. Livia Anne Richard
du die Mitbringsel für die Gastfamilie jetzt besorgt?
Nein, Scheisse, das habe ich vergessen.
Es ist Viertel nach sechs, um halb sieben schliessen die Geschäfte.
Anna nimmt das Geld, das ihr Mama schon vor mehr als einem Monat für die Mitbringsel gegeben hat, rennt aus dem Haus, schwingt sich auf ihr blaues Fahrrad und fährt los, viel zu schnell die steile Strasse ins Dorf hinunter, und natürlich ist genau jetzt die Bahnschranke zu. Anna bremst ab, vor ihr ein Lastwagen mit Anhänger, welcher, um der Warterei auszuweichen, kurz vor dem Bahnübergang auf eine Seitenstrasse nach rechts abbiegt, ohne zu blinken. Der Lastwagenfahrer hat Anna nicht gesehen. Anna hat auf der rechten Seite des Lastwagens nach vorne zur Bahnschranke fahren wollen, doch jetzt kommt der Anhänger näher und näher. Anna entschliesst sich, das Fahrrad mit voller Wucht gegen das Trottoir zu lenken, im Wissen darum, dass das Fahrrad die Trottoirhöhe niemals bewältigen wird, aber besser als vom Anhänger erdrückt zu werden, alles spielt sich innerhalb von zwei, vielleicht drei Sekunden ab. Der Trottoirrand wird für das Fahrrad das Ende der Geschichte. Anna wird über das Trottoir hinausgeschleudert. Das rechte Vorderrad des Lastwagens hält fünf Zentimeter vor Annas Kopf. Sie bleibt einen Moment lang benommen liegen und kann nicht glauben, dass sie noch lebt. Sie steht auf. Hände aufgeschürft, Arme und Ellbogen ebenso, der Kopf schwer. Der Fahrer ist ausgestiegen, bleich.
Es tut mir sehr leid, ich rufe einen Krankenwagen.
Nicht nötig, wissen Sie, ich fliege morgen nach Amerika.
Soso.
Autos halten an, Menschen kommen gerannt.
Man muss die Polizei rufen!
Ich renne zur Telefonkabine beim Bahnhof!
Mir geht es gut, sagt die blutende Anna, und lässt sie alle stehen.
Für die Mitbringsel ist es jetzt zu spät, verdammt. Anna geht nach Hause, im Schlepptau ihr arg lädiertes Fahrrad. Sie stellt es in die Tiefgarage hinter den roten Toyota, schneidet das Bremskabel mit einer Schere durch, zieht die Ärmel über die Wunden an den Ellbogen und Unterarmen und erzählt Mama nichts von Kopf-fast-unter-dem-Lastwagen, sondern nur von geschlossener Bahnschranke und versagender Bremse, es sei aber überhaupt nicht schlimm, nur die Hände etwas aufgeschürft.
Mama will die Hände verarzten, doch Anna macht das selber, beisst auf die Zähne, wäscht die blutigen Schürfungen mit Wasser aus, desinfiziert sie wie von Mama mehrfach verlangt, tut dasselbe im Versteckten mit Unterarmen und Ellbogen, versucht, die Schmerzen wegzustecken und alle Gedanken auf die lange Reise zu lenken, die wundersamerweise vor ihr liegt.
Sie packt so gut es geht den Koffer, ja, ja, es geht, Mama, jetzt lass mich – Gutenachtkuss, langer, tränenschleieriger Blick von Mama und ein Jahr sei eine lange Zeit.
Erst gegen Morgen fällt Anna in einen tiefen Schlaf, und schon kommt Mama, um sie zu wecken und zum Flughafen zu fahren. Dort kaufen sie endlich die Mitbringsel für die Gastfamilie. Mama weint beim Abschied, Anna weint, weil Mama weint. Aber die Vorfreude ist riesig. Es ist ein herrlicher Flug, ihr erster.
In der Gastfamilie, der Stone Family, gibt es zwei Töchter, Chelsea und Kayla. Chelsea lebt nicht mehr bei der Familie, die studiert irgendwo. Mutter Monica und Vater Dean haben oft bis in alle Nacht laute Diskussionen, am Morgen sieht Monica verweint aus, und eines Tages ist sie weg. Sie bleibt eine Woche lang verschwunden, Dean will gerade zur Polizei, da taucht sie wieder auf, verlangt die Scheidung, packt ihre Koffer und verschwindet. Dean teilt Anna mit, dass sie wegen Monicas Weggang in eine andere Gastfamilie werde gehen müssen. Aber Anna weiss: Das ist nur die Hälfte der Wahrheit. Das Hauptproblem heisst Namid. Er ist gleich alt wie Anna, der einzige farbige Junge an der Schule, und Anna hat sich diesen Namid geangelt.
Namids Vater ist der erste farbige Professor an der UC Berkeley. Das nützt aber auch nichts. Dean will nichts wissen von Namid als Annas Freund. Monica ist da anders, aber sie ist weg. Dean verbietet ihr, Namid zu treffen. Ab sofort. Anna weiss nicht, wie rassistisch Dean wirklich ist. Eigentlich glaubt sie, dass Deans Reaktion bei einem weissen Jungen genauso ausgefallen wäre. Aber wie auch immer: Sie und Namid müssen sich heimlich treffen.
Seit Monica ausgezogen ist, haben Dean und Anna «ein Geheimnis». Kaum ist Kayla aus dem Haus und sind Dean und Anna allein zu Hause, öffnet Dean eine Flasche Champagner. Er sagt, dass er das täte, weil Anna so europäisch sei. So stilvoll. Dass er das mit einer Amerikanerin in Annas Alter niemals tun würde. Obwohl die Gastfamilie Anna das Rauchen streng untersagt hat, bringt Dean ihr jeweils eine Packung Zigaretten mit, und wenn sie zusammen Champagner trinken, setzen sie sich hinter das Haus auf die Holzveranda. Dean sieht Anna zu, wie sie raucht. Es belustigt Anna, dass es jemand interessant findet, dem anderen beim Rauchen zuzusehen.
Als Dean ihr eines Abends hastig die Bluse aufknöpft, ihre Brüste aus dem BH befreit, sie mit beiden Händen knetet und an den Brustwarzen saugt, überlegt Anna, ob man die Brüste wohl schuldig wäre als Dank für Champagner und Komplimente. Sie denkt an den Streichelzoo, den sie als Kind mit Ander und ihrer Mutter besucht hat. Wo man die niedlichen Geissen und Zwergkaninchen mit Futter anlockt, und während man sie füttert, darf man sie streicheln. Dean saugt noch, als sie sagt:
Wir können das nächste Mal auch Cola trinken.
Dean hört mit dem Saugen auf.
Der Preis für den Champagner ist mir zu hoch.
Anna liebt es, Komplimente zu erhalten. Dass andere in ihr eine richtige Frau sehen, findet sie erstaunlich. Wenn sie in den Spiegel schaut, blickt ihr ein Indianer entgegen. Aber eine Frau, die Männer mag, kann nicht als Indianer durch die Welt gehen. Das hat Anna beobachtet. Deshalb trägt sie ein bisschen Absatz, ein bisschen Ausschnitt. Sie legt sich einen Gang zu, wie sie das bei anderen Frauen gesehen hat. Aber wenn sie sich nicht konzentriert, ist sie ganz der Indianer.
Dean sieht keinen Indianer. Das ist offensichtlich. Eines Abends, als Kayla an einer Chorprobe für einen Auftritt ist, sagt Dean, er habe den Hot Tub im Garten geheizt. Anna freut sich, wie immer, wenn sie die Aussicht hat, ins Wasser zu steigen. Anna ist ein Wassermensch. Dean ist irgendwie nervös und sagt, er müsse im Wagen noch etwas holen. Also geht er nach draussen und Anna hört, wie sich das elektrische Garagentor öffnet. Das kleine Paket, das er ihr überreicht, ist rot mit goldener Schleife.
But it’s not my birthday.
I know, I know. It’s just – a little something.
In der Tat: a little something. Eine Art Morgenrock. Aber viel zu kurz. Und zu durchsichtig. Anna bedankt sich und weiss keinen Namen für das Geschenk.
Ich warte im Hot Tub auf dich. Ziehst du das an?
Was? Ich soll das anziehen? Aber dann wird es ja nass!
Nein, du ziehst es aus, bevor du zu mir ins Wasser steigst.
Ich ziehe es an und dann gleich wieder aus?
Ja. Das wäre schön.
Männerlogik. Anna geht in ihr Zimmer und sieht, wie Dean ein Tablett mit Champagner und zwei Gläsern durch den Garten jongliert. Sie zieht ihre Kleider aus, montiert ihren ganzteiligen Schwimmanzug und darüber das durchsichtige Etwas.
Dean sieht ihr zu, wie sie mit nackten Füssen über den Rasen rennt. Wie sie tanzend den Sprinkleranlagen ausweicht. Anna kennt diesen Blick. Sie hat ihn schon öfter auf sich gespürt. Besonders auch von alten Männern wie Dean. Es ist ein weidwunder Blick, irgendwie. Etwas daran geniesst sie. Es hat mit einer geheimnisvollen Macht zu tun. Und so blickt sie Dean denn auch direkt in die Augen, als sie das Ding neben sich fallen lässt.
Willst du nicht den Badeanzug ausziehen?
Warum sollte ich das wollen?
In einem Hot Tub ist man eigentlich nackt.
Ich bin aber nicht «man».
Anna springt mit einer Flanke, ganz und gar indianermässig, zu Dean ins Wasser. Sie spritzt ihm dabei ins Gesicht, so dass seine Brille nass wird. Blind tappt Dean nach seiner Badehose, die auf dem Rasen neben dem Hot Tub liegt. Behelfsmässig putzt er seine Brille