Anna der Indianer. Livia Anne Richard

Anna der Indianer - Livia Anne Richard


Скачать книгу
kann. Einmal ist Anna mit dem Schlitten in den Bach gerast, da gab es auch eine heisse Badewanne.

      Rechts vom Bach sind die Häuser direkt am Bach, die Häuser sind zusammengebaut, immer zwei und zwei. Im dritten wohnt Anna mit Papa und Mama. Seit gestern nur noch mit Mama. Annas Kinderzimmer befindet sich im untern Stock, und das Rauschen des Bachs ist die Musik beim Einschlafen. Im Traum ist sie nicht die Squaw, da ist sie immer der Winnetou. Nicht einmal Mama kann es sich erklären: eine ganze Wohnsiedlung und nur ein einziges Mädchen. Neunzehn Familien, zwölf mit zwei Jungs, vier mit drei Jungs, eine mit vier Jungs, eine ohne Kinder, dafür mit zwei (männlichen!) Windhunden. Und dann noch Anna. Das ergibt exakt vierzig Jungs auf ein Mädchen.

      Nonna sagt immer zur Mama, dass das für das Schatzeli überhaupt nicht gut sei und sie so verrohen und niemals einen Mann zum Heiraten finden werde. Dabei will Anna gar nicht heiraten und Kinder kriegen, sondern Friedensstifter werden. Anna fasst es nicht, dass die Grossen Cowboy und Indianer in echt spielen. Sich in echt Messer in den Körper stechen. Sich in echt Kugeln in den Kopf schiessen.

      Mama sagt, Nonna habe alte Ideen und einen italienischen Hang zur Übertreibung. Nonna ist aber überzeugt von Annas Verrohung und versucht, Gegensteuer zu geben, indem sie mit Anna lauter Dinge machen will, die diese zu Tode langweilen. Zum Beispiel lernen, wie man Knöpfe annäht. Oder überhaupt näht. Lernen, wie man abstaubt, wie man bügelt – wobei Nonna das Bügeleisen niemals loslässt, wenn sie Anna zeigt, wie es geht. Sie hat dann ihre Hand auf Annas Hand und führt sie. Nonna ist die Mama von der Mama. Sie ist der beste Mensch der Welt, trotz der alten italienischen Ideen. Sie hat einen gelben Kanarienvogel, der lebt in einem kleinen Käfig bei ihr in der Küche. Er pfeift den ganzen Tag und heisst Merlo. Nonna liebt das Gepfeife. Wenn Anna aber versucht, dem Vogel nachzupfeifen, dann sagt Nonna:

      Pssst. Eine Mädchen soll nicht pfeife. Bringt schlechte Gluck.

      Und warum soll ein Mädchen nicht pfeifen?

      Ecco. Bringt schlechte Gluck.

      Aber vielleicht ist Merlo ja auch ein Mädchen? Dann hat es jetzt schlechtes Glück?

      Nonna kann auf eine Weise schweigen und mit der Zunge schnalzen und dazu den Sugo abschmecken, dass man weiss: Von nichts hat man eine Ahnung. Nonna weiss eben viele Dinge. Wenn zum Beispiel eine schwarze Katze von links kommt, dann bekreuzigt sie sich. Weil links, das ist die schlechte Seite und eine schwarze Katze, die von links kommt, ist eine verkleidete Hexe. Deshalb will die Nonna immer, dass Anna mit der rechten Hand zeichnet und nicht mit der linken. Obwohl es mit der linken viel besser geht. Jetzt darf sie mit rechts im Sugo rühren und kosten. Nonnas Sugo kocht immer einen ganzen Tag lang und ist der beste, den es gibt.

      Musst du lerne gute Sugo. Jede Frau muss koche gute Sugo.

      Und die Männer? Müssen die keinen guten Sugo kochen können?

      Nonna schnalzt mit der Zunge.

      Von den Jungs aber wird Anna nur dann als Mädchen angesehen, wenn es um die Rollenverteilung bei den Cowboys und Indianern geht. Für die Rolle der Squaw, da ist Mann sich einig, kommt sonst niemand in Frage. Ansonsten wird Annas Andersartigkeit schlicht vergessen. Sogar von Marc, trotz des Augenscheins im Zelt. Denn Anna spielt Fussball und Landhockey, klettert auf jeden Baum und lässt sich auch nicht lumpen, wenn es darum geht, einander eins aufs Maul zu geben. Wenn Anna wieder einmal den Kürzeren zieht und es schmerzt, dann weint sie nicht, das wäre tödlich. Sie stellt sich dann vor, sie wäre ein Indianer. Ein sehr grosser Indianer. Dann würde sie jetzt mit lauter und tiefer Stimme sagen: He, du Wurm, komm mal her, ich mach dich kalt!

      Mama, ich brauche ein Messer um den Bauch.

      Wozu brauchst denn du ein Messer?

      Weil ich morgen der Winnetou sein will, und der hat ein Messer um den Bauch.

      Ist nicht Marc der Winnetou?

      Morgen nicht mehr.

      Und der hat ein Messer?

      Ja, um den Bauch!

      Aber doch sicher eines aus Karton?

      Nein, ein ganz richtiges Messer.

      Da will ich aber mit seiner Mutter sprechen, das ist doch viel zu gefährlich.

      Nein, wenn ich das Messer habe, passe ich auf. Winnetou passt auf.

      Du bist aber doch die Squaw und nicht der Winnetou?

      Morgen bin ich der Winnetou. Und Winnetou braucht neue Kleider. Und er braucht neue Federn um den Kopf.

      Wo ist denn der Kopfschmuck, den Nonna für die Squaw gemacht hat, der tut’s doch auch?

      Nein, da sind rosa Federn drin.

      Wo ist er?

      Den Bach runter. – Ich rufe die Nonna an, darf ich?

      Ja, dann ruf sie halt an.

      Anna rennt ins Wohnzimmer, wo das graue Telefon steht. Die Nummer von Nonna kann sie nicht auswendig, aber sie weiss, in welcher Reihenfolge sie den Finger in die Löcher stecken muss, um an der Scheibe zu drehen. Mama steht auf der Türschwelle zum Wohnzimmer und hat ein glücktrauriges Lächeln im Gesicht.

      Anna und Nico. So vieles nachgeholt. So viel Luft dazwischen und so viel Seelennähe doch. Alles aufgeräumt: Das Ich. Das Du. Das Wir. Zu zweit mindestens drei, wenn nicht vier. Mit Nico reden. Mit Nico lachen. Mit Nico streiten. Mit Nico schweigen. Nicht schweigen, um etwas zu sagen, das man nicht aussprechen will. Schweigen als Seelenbalsam.

      Jetzt, im leeren Haus, sagt das Schweigen plötzlich viel. Es sagt, ich bin nicht mehr da, ich bin weg. Es sagt, du bist jetzt allein. Sie denkt: nicht ganz.

      Ander sitzt auf dem Sofa. Stumm schaut er sich um. Schaut zu, wie Anna die Wand mit den Fotos betrachtet. Anna mit verschiedenen Männern. Mit der Mutter. Mit Marc. Mit einer Frau und zwei kleinen Kindern. Nur ein Bild mit Nico. Sie 19, Nico 42 Jahre alt. Aufgenommen auf Alcatraz. Lange her.

      Anna hat gerade ihre Lehre begonnen. Sie muss jeden Morgen die Post der Personalabteilung öffnen und verteilen. In der Post ist eine fehlgeleitete Werbung für ein Austauschprogramm in den USA, welche Annas Interesse weckt. Sie liest und erfährt, dass sich nur Gymnasiasten und Seminaristen bewerben können.

      Sie lässt die Arbeit liegen und klopft an die Bürotür des Personalleiters.

      Herr Sieber, hier ist ein Angebot für Austauschstudenten. Ich möchte gern ein solches Jahr machen.

      Sieber liest den Prospekt flüchtig durch und findet dann, verärgert über das Störmanöver der Auszubildenden, Anna sehe ja selber, dass ein solches Austauschjahr Gymnasiasten und Seminaristen vorbehalten sei, von Lehrlingen sei da überhaupt nicht die Rede.

      Ja, aber ich will das trotzdem machen.

      Da, lesen Sie doch – es geht nicht!

      Ja, aber ich will das trotzdem machen.

      Will, will! Anna, Sie sind in einer dreijährigen Lehre bei uns verpflichtet. Sie wechseln mit den anderen vier Lehrlingen im Turnus alle drei Monate die Abteilung, Sie können nicht weg, das bringt uns doch hier alles durcheinander! Sie gehen jetzt zurück an Ihren Arbeitsplatz und machen Ihre Arbeit. Ich will von dieser Sache nichts mehr hören.

      Am Nachmittag ruft Anna bei der Austauschorganisation an.

      Nein, Lehrlinge sind leider nicht zugelassen.

      Aber warum?

      Das ist einfach so.

      Dann muss man es ändern.

      Am Abend bestürmt sie ihre Mutter damit.

      Kommt überhaupt nicht in Frage, zuerst beendest du deine Lehre.

      Ich will das machen, Mama. Und ich werde das machen. Ein Jahr später sitzt Anna nach anstrengenden Zeiten für alle Beteiligten zufrieden im Flugzeug in die USA. Nicht nur wegen der ausgefochtenen Kämpfe ist das alles andere als selbstverständlich. Am Abend vor dem Abflug wäre Anna nämlich beinahe gestorben.

      Natürlich hat sie ihren


Скачать книгу