Grenzenlose Hoffnung. Alvaro Solar
Schwierigkeiten, hierzulande Fuß zu fassen, sich einzubringen und anerkannt zu werden. Aber eben auch, und das steht häufig im Vordergrund, Erzählungen über Sehnsüchte, Wünsche und Lebensziele – mit all ihren Widersprüchlichkeiten und Zweifeln. Von Alvaro Solar liebe-, respekt- und auch humorvoll erzählt und von Cristina Collao mit phantasievollen Illustrationen ergänzt.
Es lohnt sich, auch zwischen den Zeilen zu lesen, um zu erahnen, weshalb über gewisse Prägungen, Erfahrungen und Konflikte nicht oder nur andeutungsweise gesprochen wird. Denn es geht schließlich auch um Not und Elend, Krieg und Terror, Fluchtursachen und Vertreibung, um Diskriminierung, Rassismus und Ausgrenzung. Es geht in diesen widersprüchlichen Erzählungen aus unserer zeitgenössischen Einwanderungsgesellschaft eben auch um Leben und Tod, Aufbruch und Ängste, um Verluste und Träume, um Illusionen und Hoffnung.
Dieses Buch und das zugrunde liegende Projekt hätten in jeder europäischen Stadt entstehen können, wo heute verschiedene Kulturen, Religionen, Sprachen und Bräuche dieselbe Erde teilen. Das Buch steht, so verstehen es Alvaro Solar und Cristina Collao, „für Vielfalt, Zusammenleben und Respekt auf Augenhöhe“. Sie beschreiben Ihre Motivation für diese Arbeit folgendermaßen: „In einer Zeit der sogenannten Flüchtlings- und Migrationskrise glauben wir, dass es wichtig ist, persönliche Geschichten und individuelle Schicksale, die für Millionen von Menschen repräsentativ sind, einer interessierten und wachen Öffentlichkeit zur Kenntnis zu geben. Auf diese Weise kann das Theater als künstlerische Form zur Bekämpfung von Diskriminierung und Rassismus beitragen, die heutzutage leider zur Hauptbastion populistischer und nationalistischer Bewegungen in Europa geworden sind.“ In der grenzenlosen Hoffnung, dass dieses aufklärerische Ansinnen in Erfüllung gehen und Anreiz bieten möge, ähnliche Projekte zu entwickeln und die Öffentlichkeit an ihren Ergebnissen und Erkenntnissen teilhaben zu lassen.
„Das Schönste an Bremen ist, dass hier zurzeit keine Bomben fallen.“
Akil, aus Aleppo, Syrien.
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Mein Name ist Hadi, ich komme aus Syrien.
Als Kind lebte ich in einem kleinen Ort in der Nähe von Qamischli.
Dort gab es eine Schule, aber keine Verwandten oder Bekannten,
bei denen ich leben konnte.
Ich war sieben Jahre alt, als ich nach Kobanê gebracht wurde,
um bei meinen Großeltern zu leben und zur Schule gehen zu können.
Ich war ein kleines Kind und musste
von meiner Familie Abschied nehmen.
Auch von meinen Freunden musste ich mich trennen.
Als der Wagen losfuhr, freute ich mich auf die Schule,
aber gleichzeitig spürte ich eine tiefe Traurigkeit.
Na ja, alles im Leben hat Vor- und Nachteile.
Ich wusste damals nicht, dass ich eines Tages
noch mal alles hinter mir lassen
und wieder so viel Heimweh verspüren würde.
In der Schule saß ich neben einem Mädchen.
Sie hat ständig alles von mir abgeguckt.
Eines Tages sollten wir ein Diktat schreiben,
ich wusste aber nicht, wie das geht.
Man hatte mir gesagt,
dass man bestraft wird, wenn man null Punkte bekommt,
indem man auf die Füße geschlagen wird.
Ich bekam Angst.
Ich schaute zu dem Mädchen neben mir
und diesmal kopierte ich alles, was sie schrieb.
Nicht nur das, sondern auch wie sie schrieb.
Sie hat über die Seite geschrieben, diagonal von oben nach unten.
Es war das reine Chaos.
Ich dachte, das Mädchen sieht schlau aus,
sie weiß, was sie tut, so muss es richtig sein.
Dann gab ich dem Lehrer mein Diktat.
Sie bekam null Punkte. Und ich? Ich natürlich auch.
Wir wurden beide bestraft und auf die Füße geschlagen.
Dann brachten sie uns von Klassenraum zu Klassenraum,
damit alle sehen konnten, wer beim Diktat,
null Punkte bekommen hatte.
Wir sollten uns richtig schämen.
Dabei hat uns der Lehrer ununterbrochen beschimpft.
Er meinte damals, dass das erste Jahr in der Schule
genau definiert, wie der Rest des Lebens sein wird.
Er sagte mir:
„Wenn du jetzt schlecht bist, dann wirst du immer schlecht sein!“
Er meinte auch, dass ohne körperliche Strafe,
ein Kind nicht richtig lernen kann.
Zum Glück ist das in Syrien mittlerweile verboten.
Mein Start in der Schule war also sehr schlecht.
Trotzdem habe ich es geschafft, mein Abitur zu machen
und später an der Universität Betriebswissenschaften zu studieren,
wo ich mit Bachelor promoviert habe.
Von wegen immer schlecht!
Meine Heimat zu verlassen war sehr schwer.
In meiner Erinnerung blieb das Gesicht meiner Mutter,
ihr Lächeln und die Tränen in ihren traurigen Augen.
Meine Frau und ich wussten nicht, was auf uns zukommt.
Wir sind geflohen mit der Ungewissheit,
ob wir überhaupt überleben würden.
Aber wir wollten vom Geräusch der fallenden Bomben weg,
vom Schmerz und Weinen der Frauen und Männer
über den Verlust ihrer Kinder.
Wir haben es geschafft und nun sind wir in Deutschland.
In Bremen fühle ich mich sicher.
Es gibt zwar viele Regeln, auf die man achten muss,
es ist viel zu kalt, es regnet zu oft,
es ist grau und ich muss von null an anfangen.
Aber ich sage mir:
„Du bist jetzt hier!
Die Vergangenheit muss hinter dir bleiben.
Wir sind im richtigen Land angekommen.“
Eine wichtige Verbindung zu diesem Land ist meine Tochter:
Sie ist in Bremen zur Welt gekommen,
in einem Land, das in Frieden lebt.
Wie gesagt, alles im Leben hat Vor- und Nachteile.
Wie in der Liebe.
Nichts ist leicht im Leben.
Man braucht Mut und einen starken Willen,
um das zu erreichen, was man möchte.
Manchmal fühlen wir uns wie Fremde und manchmal wissen wir,
dass