Grenzenlose Hoffnung. Alvaro Solar
sehr schmerzhaft.
Manchmal habe ich wie ein Wahnsinniger geschrien
und wollte aus dem Krankenhaus fliehen.
Aber dann haben mich zwei Krankenschwestern
am Bett festgehalten,
damit ich die verdammte Spritze bekomme.
Ich habe mich unter dem Bett versteckt,
oder im Badezimmer, sogar im Fahrstuhl.
Keine Chance.
Sie haben mich immer wieder gefunden.
Ich wollte durchsichtig sein und verschwinden,
wie ein Comic-Held.
Wenn es mir zu schlecht ging,
dann musste ich länger im Krankenhaus bleiben.
Einmal lag ich im Krankenhaus auf meinem Bett
und fragte meine Mutter:
„Mama, wo gehen die Toten hin, nachdem sie sterben?“
Sie antwortete:
„Sie werden Bäume.“
Ich dachte dabei:
„Wenn ich sterbe,
möchte ich ein Himbeerbaum werden.“
TALIBAN
Mein Name ist Mustafa.
Ich bin in Afghanistan zur Welt gekommen.
Als ich sechs Jahre alt war,
bin ich drei Jahren lang zur Schule gegangen.
Ich konnte damals sehr gut mit Stelzen laufen.
Mein Vater, zusammen mit meinem Bruder, hat sie gebaut.
Alle Kinder in meinem Dorf konnten mit Stelzen laufen.
Das war schön, man hat von oben eine bessere Sicht der Dinge.
Im Jahr 2015 bin ich in den Iran geflüchtet.
Um dorthin zu gelangen, musste ich erst mal nach Pakistan gehen.
Also in die entgegengesetzte Richtung.
Zwei Wochen war ich unterwegs,
über die Berge, zu Fuß und mit dem Auto,
in sehr gefährlichen Gebieten.
Wir waren eine Gruppe von ungefähr hundert Menschen.
Alles nur Männer, die Frauen mit den Kindern
waren auch unterwegs, aber über die Straßen.
Von meiner Familie waren Onkel und Cousins mit mir.
Auf den Bergen waren die Wege sehr eng,
man musste sehr genau schauen,
um nicht in den Abgrund zu fallen.
Ich habe gesehen, wie einige Menschen so gestorben sind.
Auch bewaffnete Kriminelle lauerten uns auf.
Wir wurden überfallen, sie nahmen uns alles weg,
Geld und Telefone.
Wir gingen Richtung Quetta.
Danach Richtung Panjgur.
Nachdem wir die Grenze zum Iran überquerten
sind wir Richtung Khash gegangen.
Dort waren wir zwei Tage,
dann ging es weiter nach Iranschahr, später nach Teheran.
Dort bin ich vier Monate geblieben und habe als Maurer gearbeitet.
Ich bekam 250,00 € im Monat.
Dann ging es weiter nach Tabris, später nach Van, in der Türkei.
In Istanbul war ich eine ganze Woche.
Mit dem Boot ging es weiter nach Griechenland.
1.000,00 € kostete die Überfahrt.
Das Geld hatte ich von meinen Brüdern und Cousins bekommen.
In Griechenland konnte man Tausende Menschen sehen,
die auf der Flucht waren.
Die Straßen waren voll; sie schliefen auf dem Boden,
am Straßenrand, einige liefen, andere waren völlig erschöpft.
Und dann ging es immer weiter, die Balkanroute entlang,
Mazedonien, Serbien, Ungarn, Österreich
und endlich Deutschland.
Ich habe zwei Brüder im Iran,
der Rest der Familie ist in Afghanistan.
Ich bin verheiratet, meine Frau ist aber noch bei ihrer Familie.
Sie ist 19 Jahre alt.
Ich kenne sie, seit wir kleine Kinder waren.
Wir sind entfernte Cousins.
Meine Familie hat diese Ehe organisiert,
aber ich bin sehr verliebt.
Im Jahr 2014 heirateten wir.
Sie sollte bei mir in Deutschland sein,
aber es gibt ein großes Problem:
Ihre Familie gehört zu den Talibans.
Ein Onkel von ihr ist sogar ein Mullah der Taliban.
Mein Schwager sagte mir,
dass ich auch ein Taliban werden sollte.
Wenn nicht, dann würden sie mich töten müssen.
Ein Onkel meiner Frau hat dann eine Pistole
an meine Schläfe gesetzt
und meinte, dass ich für sie arbeiten solle.
Meine Eltern sagten daraufhin,
dass ich so schnell wie möglich fliehen sollte,
sonst würden mich die Taliban umbringen.
Ich habe von meiner Frau kein Foto, keine Briefe.
Wir können miteinander nicht telefonieren.
Ich sehe sie seit zwei Jahren und sechs Monaten nicht mehr.
Aber mein Herz schlägt viel schneller,
wenn ich an sie denke.
EIN NEUER TAG
Mein Name ist Mustafa,
ich bin 21 Jahre und komme aus Kobanê.
In meiner Familie sind wir acht Geschwister,
fünf Jungen und drei Mädchen.
Als ich sechs Jahre alt war, sagte mein Vater zu mir:
„Heute fängt ein neuer Tag für dich an!
Es ist Zeit, zur Schule zu gehen!“
Ich freute mich sehr, aus verschiedenen Gründen.
Ich hatte damals das Gefühl,
dass mein Vater diejenigen von uns,
die zur Schule gingen, mehr liebte.
Außerdem wusste ich, dass ich extra für die Schule
neue Klamotten bekommen würde:
eine schöne helle braune Jacke,