Die bewegte Frau. Katrin Jonas
und vor allem leichtigkeitserprobte Bewegungen kennenzulernen. Und dabei kommen auch wieder stillere, somatisch kluge und meditativere Sequenzen zur Selbsterfahrung ins Spiel. Diese führen zu einem natürlichen Balanceverhältnis zwischen Bewegung und Ruhe und erleichtern es, zwischen diesen beiden Polen hin und her zu gleiten. Denn: Wer die Stille kennt, verlangt automatisch nach Bewegung. Wer ausschließlich das Bewegtsein kennt, verpasst das Wunder der Stille.
„Die bewegte Frau“
Bei allem geht es um Sie, ja, um Sie und Ihren Körper mit seiner ganz persönlichen Geschichte! Im Einverständnis mit Ihren echten Bedürfnissen dürfen Sie das Spektrum Ihres Bewegens von Neuem aufrollen. Sie knüpfen an Ihr natürliches Gespür für Bewegung an und erfahren im Spielraum zwischen Ruhen und Bewegen, was wirkliche Balance bedeutet. Und dann wird ein Schuh draus; denn diese ist es dann auch, die ihre Gesundheit nährt.
Unabhängig davon, ob Sie sich momentan selbstvergessen auspowern, mit zusammengebissenen Zähnen Kilometer schrubben, sich von Bewegung längst verabschiedet haben oder immer wieder an der Ich-will-aber-ich-kann-nicht-Schwelle scheitern: Kommen Sie mit! Lassen Sie alles Sollte und Müsste hinter sich! Entdecken Sie, was alles möglich ist.
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Natürlich bewegen – was sonst?
Natürlich natürlich
Das Gebiet des Bewegens ist besonders bei uns Frauen so sehr mit Glaubenssätzen und Idealen überfrachtet, dass ich hier auf gar keinen Fall mit einem weiteren Ich-habe-die-ultimative-Lösung-Angebot anrücken werde. Im Gegenteil. Ich möchte das Thema lieber öffnen, mit Fragezeichen versehen und darauf schauen, wie es für Ihren individuellen Organismus am besten wäre. Ja: Wie wäre das Bewegen Ihres Körpers als eine der Grundfunktionen menschlichen Lebens natürlich?
Vielleicht kommt Ihnen das bekannt vor, denn ich stelle diese Frage nicht zum ersten Mal. Wer meine anderen Bücher kennt, weiß, dass ich sie immer dann stelle, wenn es um körperliche Herausforderungen, die persönliche Konstitution, Symptome oder ums Hinterfragen von Erkrankung geht.
Denn: Aus meiner Erfahrung heraus ist die Frage nach dem Natürlichsein die einzige, die uns zu Antworten führt, welche uns als individuelle Menschen anerkennen und unterstützen. Gleichzeitig hilft sie uns zu bemerken, wann wir es mit körperfremden und von außen aufgesetzten Pauschaltheorien zu tun haben, die für die breite Masse entworfen wurden und das Bewegen des Körpers zu einem standardisierten Relikt machen. Orientieren wir uns bei allem, was folgt, an einer einzigen Sache: an seiner Natürlichkeit.
Die drei Natürlichkeitsfragen
Wenn wir uns aus dem Wust an Bewegungstheorien und Fitnessdiktaten, die aus den Reihen der Körperoptimierungsindustrie auf uns einprasseln, herauswühlen und unseren eigenen Weg durch das Kapitel Bewegung finden wollen, erleichtern die folgenden drei Fragen den Fokuswechsel zum Natürlichsein:
• Wie hat die Natur das Bewegungssystem des Menschen eingerichtet?
• Was bedeutet es konkret, sich an der Natürlichkeit von Bewegung zu orientieren?
• Was hat es mit einem natürlichen Bewegungsbedürfnis auf sich?
Ursprüngliches Bewegen
Wieder greife ich auf einen einfachen Lösungsansatz zurück, indem ich mich an denjenigen Menschen orientiere, deren Verhältnis zu Bewegung tatsächlich am natürlichsten ist, und das sind kleine Kinder. Oder richtiger: Das sind Kinder so lange, wie sie vom bewertungsorientierten Denken der Erwachsenenwelt unbeeinflusst bleiben. Und dabei werden Sie im Handumdrehen sehen, ob Ihr Verhältnis zu Bewegung ein stimmiges, weil natürliches ist oder aber, ob Sie sich von diesem entfernt haben. Oder ganz, ganz anders! Vielleicht merken Sie auch, dass Sie mehr vom natürlichen Bewegen verstehen als Sie dachten, und mit Ihrer Intuition goldrichtig liegen. Ja, auch so etwas kann passieren. Gehen wir also zum Anfang zurück und filtern während eines Spaziergangs durch die Bewegungsentwicklung des Kindes heraus, welche Faktoren dabei die essenziellen Rollen spielen.
Anpassungszeit
Das Bewegen eines Neugeborenen ist in den ersten Lebenswochen auf das Minimalste reduziert. Solange sein Organismus vorwiegend damit befasst ist, sich an die neue Umgebung im Vergleich zum Leben im Uterus anzupassen, schläft ein Kind über viele Stunden. Es erholt sich von den Strapazen der Geburt und übt sich in der Anpassung an das neue Leben. Ein Bewegen als äußere Ausdrucksform ist vom Gehirn noch nicht installiert, weil das Überleben in der so anders funktionierenden Umgebung Priorität hat.
Doch ein „inneres Bewegen“ ist bereits im Gange: Der Übergang zur Atembewegung wurde gemeistert, das Herz schlägt, der Blutkreislauf fließt und die Verdauung funktioniert. Sobald ein Kind die erste Anpassungsphase bewältigt hat und seine inneren Bewegungen, die sein Überleben sichern, in Gang gesetzt sind, beginnt es, sich auch um das äußere Bewegen zu kümmern.
Die Sensorik führt
Dabei lässt es sich von nichts anderem als seiner Sensorik leiten. Das ist so, weil das Kind nichts vom Leben versteht, keine eigenen Erfahrungen hat und sich an nichts anderem orientieren kann. Deshalb ist seine Sensibilität in den ersten Lebensmonaten enorm hoch. Und von dieser lässt es sich auch bewegungsbezogen leiten.
Schließlich kommt im Leben eines jeden Kindes irgendwann ein Moment, in dem es zum ersten Mal für seine bewegungsbezogenen Mühen sensorisch belohnt wird. Das passiert, sobald es seine Finger zum Mund führen kann, an ihnen lutscht und Wohlgefühl dabei empfindet. Später entdeckt es den großen Zeh und immer mehr Körperteile, die es zu benutzen lernt.
Während dieser Entdeckungen wiederholt es diejenigen Bewegungen besonders gern, die sich gut und flüssig anfühlen. Das kann das Drehen des Kopfes, das Wippen des Beckens oder das Kicken eines Beines sein. So entdeckt ein Kind in den ersten Wochen und Monaten immer mehr Körperteile, die ihm befriedigende sensorische Empfindungen vermitteln. Und diese regen es zum Weiterforschen an.
Auf Abenteuertour
Sobald ein Baby die erste Anpassungsphase an seine Umwelt gemeistert hat, seine Sensorik ihm viel Genussvolles verspricht und sein Gehirn immer mehr reift, begibt es sich auf eine immense Abenteuerreise. Es bemerkt, welche Körperteile es bewegen kann und was dies auf sensorischer und motorischer Ebene bewirkt. Dabei erfährt es auch, dass es mit jeder neu entdeckten Bewegung einen größeren Handlungsspielraum erlangt, sich besser ausdrücken und verständlich machen kann.
Besonders begrüßt es diejenigen Momente, in denen es durch das Entdecken neuer Bewegungsfunktionen sein Gesichtsfeld erweitert. Das geschieht beispielsweise, wenn es lernt den Kopf zu heben, sich herumzudrehen und zu rollen. Und so geht es weiter. Irgendwann sitzt und krabbelt es, kann es die Schwerkraft überwinden und fühlt sich von der Vertikale angezogen. Eine bewegungsbezogene Revolution erlebt es, wenn es aufstehen und loslaufen kann. Was für ein Moment! Die Welt liegt ihm zu Füßen.
Drei Triebkräfte
Diese im Kurzdurchlauf beschriebene Entwicklung basiert auf drei natürlichen Triebkräften, die uns Menschen zu eigen sind: dem „evolutionären Code“, dem sozialen Lernen und dem sensomotorischen Genuss.
1. Der „evolutionäre Code“
Der grundlegende Antrieb zu Bewegung resultiert daraus, dass wir Menschen ein bestimmtes „Set-up“, eine Grundinformation in uns tragen, die ich hier als den „evolutionären Code“ bezeichne. Das heißt, dass uns all unsere sensomotorischen Entdeckungen nicht vorgeführt oder beigebracht werden müssen. Das Kind macht diese entsprechend seiner Gehirnreife ganz von selbst, unabhängig davon, auf welchem Fleck der Erde es lebt, wie seine dortigen Bedingungen