Die bewegte Frau. Katrin Jonas

Die bewegte Frau - Katrin Jonas


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von den meisten Menschen durchlaufen.

       2. Soziales Lernen

      Die zweite Triebkraft besteht darin, dass das Kind mit zunehmender Reife seine Umgebung und die Menschen darin besser wahrnimmt und mit diesen in Kontakt treten möchte. Es erfährt, dass sich dieser Austausch immer produktiver und lebendiger gestaltet, je mehr Fähigkeiten des Bewegens und des bewegten Selbstausdrucks es entdeckt.

       3. Sensomotorischer Genuss

      Und die dritte Triebkraft ist, dass sich das Kind in seinem Vorgehen hauptsächlich vom sensomotorischen Genuss leiten lässt. Dadurch, dass es durch Bewegung eine immense innere Befriedigung erfährt, fühlt es sich stimuliert, nach mehr genussvollen Erfahrungen zu suchen. Und das ist einer seiner Hauptantriebe: Ein Kind folgt, so lange es gelassen wird, seinem inneren Erfülltsein.

      Genussvolles Bewegen

      Einmal abgesehen davon, dass die Interaktionen mit der Außenwelt ein Kind zum Bewegen animiert, sehen Sie deutlich, dass die Bewegungsentwicklung ein Prozess ist, den es zu großen Teilen selbstgeführt vollzieht. Und das, liebe Leserin, traf auch auf Sie zu. Auch Sie handelten vollkommen sicher aus Ihrem Eigenempfinden heraus und richteten sich nach Ihrem Wohlgefühl. Und jetzt staunen Sie vielleicht. Auch Sie orientierten sich an Ihrem Bewegungsgenuss.

      Und da schauen wir noch etwas genauer hin. Weil sich ein Kind seiner Vorgehensweise nicht bewusst ist, sondern einfach intuitiv vorgeht und seinem Innenleben folgt, gestaltet sich dieser Prozess recht simpel: Bewegungen und Aktionen, die sich im Inneren produktiv, organisch und deshalb erfüllend anfühlen, verfolgt es weiter. Was es als gegenteilig, unbefriedigend oder unorganisch wahrnimmt, weckt nicht sein Interesse. Und genau diese Variablen sind beim Erlernen neuer Bewegungen seine stärksten Katalysatoren. Diejnigen Bewegungen, durch die es sensomotorische Erfüllung findet, untersucht es besonders genau, benutzt es öfter und feilt es aus. Lösungen findet es dort, wo es Bewegungsfülle, koordinativen Fluss und Genuss vermutet und schließlich erfährt.

      Und genau diese Vorgehensweise sollten Sie sich, wenn Sie auf Ihre Beziehung zum Bewegen schauen, einmal auf der Zunge zergehen lassen! Indem wir Menschen Bewegung von klein auf mit sensomotorischer Befriedigung verbinden, liegt es nahe, dass uns dieselben Qualitäten auch weiterhin als innerer Leitfaden beim Bewegen dienen. Sie vermitteln uns, was für uns erfüllend, „richtig“ und natürlich ist.

      Das Gefühl für Aktivität und Ruhe

      Darüber hinaus hat ein Kind einen ausgeprägten Sinn für das Verhältnis zwischen Aktivität und Ruhe. Genauso, wie es sich enthusiastisch und ausgelassen bewegen kann, begibt es sich augenblicklich zur Ruhe, wenn es genug vom Aktivsein hat. Und umgekehrt: Wenn es sich ausgeruht hat, verlangt sein Bewegungsdrang wieder nach seinem Ausdruck und diesem folgt es dann auch.

      Diese beiden Vorgänge – Aktivsein und Ruhen – wechseln einander ab und streben fortlaufend nach Balance. Weil das so ist, werden Sie weder ein Kind finden, das permanent in Aktivität verbleibt, noch eins, das in Passivität verharrt. Ein Kind ist mit seinem Körper so eng verbunden, dass es sich von seinen sich ständig wechselnden Bedürfnissen leiten lässt und diese immer wieder aktualisiert ins Gleichgewicht bringt.

      So kommen wir zu einer weiteren Wahrheit: Es ist nicht ganz richtig, wenn man den Menschen zum steten und regelmäßigen Bewegen animieren möchte. Zutreffender müsste es heißen, dass der gefühlte Wechsel zwischen Bewegen und Ruhen zu unserer Natur gehört. Und dieser gibt dann auch den Ausschlag dafür, dass wir nicht in den Extremen landen, dass wir uns weder durch Überaktivität erschöpfen noch im Phlegmatismus versacken.

      Spontaneität im Moment

      In der vergangenen Woche, als ich in London Heathrow auf den Flug nach Shanghai wartete, demonstrierte ein etwa dreijähriger asiatischer Junge genau das lebhaft. Nachdem er seine Mutter auf Trab gehalten hatte, weil ihn der Inhalt eines großen Abfallkübels fesselte, kam er nach einer Weile zu ihr zurück, zog sich die Kapuze seines Hoodies über den Kopf und legte sich neben sie auf die Bank. Auf der Stelle schlief er ein, und zwar so fest, dass die Mutter ihn nach dem Aufruf zum Boarding-Gate tragen musste.

      Damit kommt noch eine weitere Eigenschaft ins Spiel: Das alles passiert, weil ein Kind im Moment lebt und sich in sein Bewegen total und passioniert hineinbegibt. Wenn es spielt, sich mit etwas eingehend befasst oder von einer neuen Entdeckung begeistert ist, taucht es voll und ganz in die jeweilige Aktion ein. Genau dieses Verbundensein mit dem Körper im Moment beinhaltet auch, dass es spürt, wann es genug von etwas hat und sein Organismus anderes braucht. Also hält es auf der Stelle an. Ein naturbelassendes Bewegungsverhalten ist spontan. Es entspricht der inneren Situation des Menschen und hat nichts mit äußeren Parametern zu tun. Ein Kind lässt sich intuitiv von seinem Bewegungs- oder Ruhebedürfnis leiten und erreicht in der Art, wie es das tut, aus Sicht der Natur echte „Perfektion“.

      Großes und kleines Bewegen

      Und noch etwas ist interessant. Wenn sich ein Kind bewegt, muss dieses Bewegen keines sein, das wir Erwachsenen mit unserem auf Resultate geeichten Verstand als „richtig“ anerkennen. Für ein Kind zählt neben einem experimentellen, spielerischen Bewegungsverständnis auch das innere Bewegen, mit dem es genauso viel Zeit verbringt wie mit dem äußeren. Genauer betrachtet unterscheidet es nicht einmal zwischen beidem.

      Wenn es sich entwickelt und seinen Körper erforscht, testet es viele Bewegungen erst einmal gefühlsbezogen im Kleinen aus. Es probiert, justiert, verfeinert und passt an. Es geht vor wie ein „Körperingenieur“, der beständig Feinabstimmungen vornimmt. Das tut ein Kind solange, bis es die sensomotorische Reife für größere Bewegungen hat.

      Wenn wir uns das Vorgehen eines Kindes im Detail ansehen, sagt uns das nichts anderes, als dass es sich beim Erfüllen unserer Bewegungsbedürfnisse nicht ausschließlich um große Bewegungsamplituden drehen muss. Im Gegenteil. Das umfassendere Bewegen ist genauso wichtig wie die vielen minimalen, feinen Bewegungen, die von außen nicht einmal sichtbar sein müssen. Große und kleine Bewegungen greifen vollkommen natürlich ineinander über. Sie sind gleichberechtigte Teile eines Ganzen, die ein Kind in Bezug auf sein Körpergefühl niemals voneinander trennt.

      Inneres Bewegen

      Das Gesagte schließt auch ein, dass ein Kind mit den Bewegungen im Inneren seines Körpers, die durch die Körperfunktionen wie Atmung, Herzschlag oder die Bewegung der Körperflüssigkeiten ausgelöst werden, weiterhin eng verbunden bleibt.

      Kinder spielen beispielsweise sehr intensiv mit ihrer Atmung, testen, wie lange sie die Luft anhalten können, experimentieren mit der Funktion des Zwerchfells, indem sie Atemgeräusche oder bestimmte Töne erzeugen. Sie empfinden den Atem als etwas Mystisches, das sie in seinen Möglichkeiten ausloten möchten. Darüber hinaus lauschen sie dem Schlag ihres Herzens. Das tun sie nicht zuletzt deshalb, weil sie sich intuitiv an den Herzschlag der Mutter erinnern, als sie in ihrem Leib mit diesem verbunden waren und er ihnen das Gefühl des Zuhauseseins und der Sicherheit gab.

      Das alles bedeutet, dass ein Mensch, der im Kontakt mit seinem Organismus ist, zwischen innerem und äußerem Bewegen nicht unterscheidet, sondern gleichrangig wach für alle bewegungsbezogenen Vorgänge ist. Und mit diesen Eigenschaften waren Sie, liebe Leserinnen, ohne Ausnahme ebenso verbunden. Als Sie Ihre Bewegungswelt eroberten, schätzten Sie neben Ihren äußeren auch Ihre inneren Bewegungen. Warum? Weil das etwas ganz Normales für Sie war.

      Federleicht

      Steigen wir jetzt einmal in das praktische Erfahren ein und kommen wir zur ersten Federleicht.Inspiration.

      Diese kleinen Do-it-yourself-Experimente zum Wahrnehmen unterstützen Sie darin, Ihre Beziehung zum Bewegen zu reflektieren, auf diese mit frischem Blick zu schauen und Federleicht-Qualitäten in Ihr Bewegungsrepertoire aufzunehmen. Wie der Name bereits sagt, geht es hier weder um ein zielorientiertes Üben noch um eine Bewegungspraxis,


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