Die bewegte Frau. Katrin Jonas
mehr danach, wie sein Bewegen und Bewegtsein bei anderen ankommt, ob es willkommen, mit Kritik behaftet, störend oder verboten ist.
Von der Außenwelt dominiert
Und schließlich verändert es das Bewegungsverhalten entsprechend der äußeren Einflüsse rasant. Sein ureigenes Gespür passen viele Mädchen der Art und Weise an, die in ihrer Umgebung am meisten gewünscht sind. Zudem erwartet man von einem Mädchen mehr als von einem Jungen, dass es die Regeln seines Umfeldes erfüllt. Deshalb opfern nicht wenige Mädchen ihren natürlichen Bewegungsdrang zugunsten des Nicht-Auffallens oder Lieber-still-Bleibens.
Oder ganz anders: Sie geben ihr sicheres Gefühl für eine Bewegungs-Ruhe-Balance auf und verfallen in den Aktionismus oder die Hyperaktivität. Sie werden bereits früh zu kleinen „Macherinnen“, die sich um alles und jeden kümmern, unentwegt aktiv und versorgend sind, doch sich selbst dabei vergessen.
Und dann gibt es noch diejenigen Mädchen, für die die Erwachsenenwelt zu schnell und zu fordernd ist. Sie passen ihre Bewegungen einzig der Notwendigkeit an, irgendwie mitzuhalten und das Minimum der Erwartungen zu erfüllen. Und dabei büßen sie ebenfalls ihr natürliches Bewegungsempfinden ein.
„Restless Legs“
Ich erinnere mich an Lilly, eine Klientin, die unter einem sogenannten Restless-Leg-Syndrom, also an ständiger Unruhe in den Beinen litt und nicht für einen einzigen Moment still sitzen konnte.
Im Gespräch stellte sich heraus, dass sie ursprünglich ein sehr langsames Kind war, das Bewegung genoss, sich aber an die Geschwindigkeiten der Umgebung nie anpassen konnte. Ihre Grunderfahrung war, dass sie ständig den anderen hinterherrannte und es einfach nicht schaffte, mit ihnen Schritt zu halten. In ihrer Erinnerung blieb das grundsätzliche Gefühl, nie an die anderen anschließen zu können. Und dieses prägt noch immer ihr Leben. Als erwachsene Frau wird sie in wiederkehrenden Albträumen mit diesem Gefühl des Hinterherrennens konfrontiert, wobei sie den Anschluss immer knapp verfehlt. In ihrem Alltag setzt sie alles daran, schnell reagieren zu können und möglichst flink im Bewegen zu sein. Lilly führt ein atemloses Leben und ist immer in Eile. Als wir uns gegenübersitzen, holt sie kaum Luft. Sie kann ihren Körper kaum entspannen.
Ehrgeizige Erwachsenenwelt
Mitunter können Sie Anzeichen für solche Entwicklungen deutlich im Alltag sehen. Der Ehrgeiz nicht weniger Eltern besteht darin, dass ihr Kind möglichst früh das Laufen erlernt, anstatt abzuwarten, bis es sich wirklich sicher auf den Beinen fühlt. Noch bevor es in der Lage ist zu laufen, ziehen es die Eltern hinter sich her oder animieren es zum schnelleren Bewegen. Viele von ihnen glauben, dass ihre Kinder so früh wie möglich an die allgemeine Schnelligkeit der Erwachsenenwelt angepasst werden müssen. Deshalb lassen sie ihren Kindern kaum Zeit, ihr Leben in ihrem eigenen Rhythmus zu entdecken.
Darüber hinaus müssen sich Kinder, die früh in Betreuungseinrichtungen untergebracht werden, dem Gruppenzwang unterwerfen. Spielen und Bewegen ist dann angesagt, wenn es alle machen, und nicht, wenn der Körper es verlangt. Dabei kommen die Gruppendynamik, der Wettkampfgedanke und das Einander-Übertrumpfen ins Spiel. Besonders Mädchen kommen hier an Ihre Grenzen, denn häufig spielen Jungen die dominantere Rolle und drücken Gruppensituationen den Stempel auf.
Dies sind nur einige Beispiele, warum Kinder ihr ursprüngliches Gespür für Bewegung aufgeben, sich an eine fremde Bewegungsweise anpassen und für Angebote von Außen anfällig werden.
Bewegungskarrieren
Und schließlich gibt es so früh bereits Extreme: Für einige Mädchen sind schon große Bewegungspläne in Form sportlicher oder künstlerischer Karrieren geplant, wenn sie noch nicht einmal fünf Jahre alt sind. Kinderballett, Kunstkurse oder Sportgruppen im Sinne von „Früh übt sich, wer eine Meisterin werden will“ sind typische Ausdrucksformen eines maskulinen, ergebnisorientierten Entwicklungsansatzes. Es geht immer früher ums Jemand-Werden, ums Leisten und Etwas-vorweisen-Können.
Besonders bei Mädchen wird das äußere Erscheinungsbild und wie sie beim Bewegen wirken mit jedem Lebensjahr wichtiger. Mädchen verinnerlichen das sehr schnell und richten sich auch bewegungsbezogen nach dem, was von ihnen erwartet wird. In Abhängigkeit von ihrem Umfeld werden sie bereits früh zu kleinen Prinzessinnen, süßen Kokettiererinnen oder niedlichen Ballerinas, die sich bereits sehr früh an einen künstlichen Selbstausdruck gewöhnen.
Beweggründe
Legen wir hier eine kurze Pause ein. In dieser lade ich Sie zu einer neuen Selbsterfahrungssequenz ein.
Unter der Rubrik „Beweg.Gründe“ finden Sie im Buch verschiedene Möglichkeiten zur Selbstreflexion. Wenn es für Sie attraktiv klingt, Ihr Verhältnis zum Thema Bewegung hier mit frischem Blick anzuschauen, haben Sie immer dann, wenn es um die Beweg.Gründe geht, die Chance, etwas genauer in sich hineinzuhorchen und sich mit Ihren Bewegungswahrheiten zu befassen. Was die praktische Ausführung anbelangt, gibt es drei Optionen:
• In sich einsinken lassen und fühlen
Sie können Ihre Selbstreflexionen in einer besinnlichen Minute gedanklich nachvollziehen und in sich einsinken lassen. Mit „Einsinken-Lassen“ meine ich, in die Worte hineinzuspüren und deren Botschaft für Ihren Körper gefühlsmäßig herauszufiltern.
• Sprechen und Aufzeichnen
Sie können Ihre Reflexionen aber auch in Ihr Smartphone sprechen. Drücken Sie einfach die Aufnahmetaste, die meistens mit „Voice Memo“ oder „Audio-Aufnahme“ gekennzeichnet ist. Das hat den Vorteil, dass Sie Ihrer Stimme später beim Abhören Qualitäten wie Freude, Enthusiasmus, Unsicherheiten und ja, verschiedene Stimmungen entnehmen können.
• Aufschreiben
Oder Sie schreiben Ihre Reflexionen auf oder tippen sie ins Handy, in Ihr Notebook oder den PC. Mit der Hand zu schreiben hat den Vorteil, dass Sie eine motorische Aktion ausführen und dadurch auch Informationen des Unterbewusstseins anzapfen.
BEWEG.GRÜNDE
Ihre Bewegungsgeschichte
Nehmen Sie sich Zeit und schauen Sie einmal in Ihre frühen Lebensjahre bis zum Schulanfang zurück. Formulieren oder notieren Sie Ihre Bewegungserfahrungen und beschreiben Sie diejenigen, die aus Ihrer Sicht Ihr Verhältnis zu Bewegung beeinflusst oder geprägt haben.
Nutzen Sie dazu die folgenden Fragen als Anhaltspunkte:
. Was für ein „Bewegungskind“ waren Sie?
Waren Sie ein wildes Kind? Hielt man Sie für ein Bewegungstalent, ein agiles, bewegliches Kind? Eine Draufgängerin? Eine Zurückgezogene? Eine Muffeline? Oder eine ganz Stille?
. Waren Sie in Bezug auf Bewegung sicher, experimentierfreudig und neugierig? Oder eher zögerlich und zurückhaltend? Was hat Ihnen bewegungsbezogen Spaß gemacht? Was hat Sie abgeschreckt? Wovor fürchteten Sie sich? Haben Sie Peinliches, Prägendes, Herausragendes, Enthusiastisches erlebt? Hatten Sie Lieblingsbewegungen?
. Für welches Bewegungsverhalten wurden Sie gelobt und anerkannt? War Ihr Zuhause bewegungsfreundlich? An einem natürlichen Lebensstil orientiert? Hatten Sie bewegungsbezogene Vorbilder? Ideale?
Wahrheiten
Ihre Antworten können durchaus von dem abweichen, was man Ihnen erzählt hat oder was Sie auf Fotos sehen. Insbesondere Aufnahmen, die in der täuschenden Atmosphäre der Video- und Selfiekultur gemacht wurden, manipulieren oft, was wirklich war.
Erst kürzlich sah ich während eines Spaziergangs im Londoner Hyde Park ein Mädchen, das deutlich sichtbar nicht in