Schlüssel der Zeit - Band 4: Der Fuchs und der Räuber. Tanja Bruske
zwei Wochen von ihrer Großmutter einen seltsamen Schlüssel erhalten hatte, der es ihr ermöglichte – nein, der sie eher nötigte! – durch die Zeit zu reisen.
Dreimal hatte er sie mittlerweile schon durch Zeit und Raum katapultiert. Sie war, wie sie mittlerweile wusste, als Zeitwächterin dafür zuständig, Dinge zu korrigieren, die in der Vergangenheit durcheinandergeraten waren. Sie hatte gehofft, dass ihre Großmutter ihr noch mehr erklären würde, aber Clara Schlosser hatte kurz nach Keyras zweiter Zeitreise einen Anfall erlitten und lag in der Marköbler Seniorendependance in einer Art Dämmerzustand. Bevor sie zusammengebrochen war, hatte sie allerdings einen geheimnisvollen Orden alarmiert, als dessen Vertreter sich der Mann vorgestellt hatte, der ihr nun im Trainingsraum gegenüberstand.
„Sie sind unkonzentriert“, sagte Leopold vorwurfsvoll, während sich Keyra mit schmerzverzogenem Gesicht aufrappelte, „Das hat nichts damit zu tun, dass wir erst seit gestern trainieren.“
„Es tut mir leid – mir schwirren einfach so viele Fragen im Kopf herum. Und du hast dich bis jetzt geweigert, mir auch nur die einfachsten Dinge zu beantworten.“ Keyra schnappte sich ihren Rucksack, den sie in eine Ecke gepfeffert hatte, und nahm eine Flasche Wasser heraus. Sie trank in großen Schlucken und fühlte sich gleich besser.
„In Bezug auf Zeitreisen gibt es leider keine einfachen Fragen und erst recht keine einfachen Antworten.“ Leopold seufzte und lehnte sich gegen einen Sandsack, der an der Wand stand und oben einen Karabinerhaken hatte. Man konnte dieses Ding wohl als Box-Sack an die Decke hängen.
Probiert hatte Keyra das noch nicht – sie hatte nicht einmal geahnt, dass im Keller des Hauses ihrer Großmutter in Langenbergheim so ein Trainingsraum war. Früher wäre sie allerdings auch nicht auf die Idee gekommen, hinter dem Regal mit den Latwergen nach einem Geheimzimmer zu suchen. Als sie gestern Leopold das erste Mal in den verborgenen Teil des Kellers gefolgt war, war ihr fast die Luft weggeblieben. Fast noch mehr als über den kleinen, schallgedämpften und mit Trainingsmatten ausgekleideten Raum staunte sie über die winzige Bibliothek nebenan. Dort standen im Licht einer altmodischen Glühbirne ein kleiner Sekretär und drei Bücherregale. Eines davon war mit modernen Abhandlungen über Geschichte gefüllt, in einem anderen standen alte – wirklich sehr alte – Bücher zum gleichen Thema, und das dritte Regal, das mit ledergebundenen Büchern gefüllt war, hatte Leopold sie nicht einmal genauer ansehen lassen, so wertvoll waren die Schriften.
„Ich glaube schon, dass es ein paar Antworten gibt, für die du dich nicht allzu sehr anstrengen müsstest“, meinte Keyra spitz. „Zum Beispiel dieses Haus hier: Du sagtest, meine Oma wohnt hier nur, aber es gehört dem Orden – wie lange schon?“
„Seit vielen Jahren. Es ist nicht das einzige Haus dieser Art – ebenso wenig, wie Sie die einzige Zeitwächterin sind.“
„Das habe ich mir schon gedacht – schließlich war meine Oma auch Zeitwächterin … und meine Mutter auch.“ Das Thema war heikel – Keyra hatte gerade erst erfahren, dass ihre Mutter Paula Kelly, geborene Schlosser, während einer Zeitreise verschollen war. Selbst der Orden wusste wohl nicht genau, was ihr zugestoßen war – behauptete zumindest Leopold.
„Du wolltest mir sagen, was meiner Mutter eigentlich passiert ist“, versuchte sie es noch einmal.
„Das wissen wir auch nicht. Wir wissen nicht einmal, in welche Zeit sie gereist ist. Der Kontakt zu ihr ist einfach abgerissen.“
Verstohlen berührte Keyra den kleinen Kristallschlüssel, den sie an einer Kette um den Hals trug. „Wenn meine Mutter verschwunden ist – was wurde aus ihrem Schlüssel?“
„Ebenfalls verschwunden“, sagte Leopold knapp. Er deutete auf den Schlüssel in Keyras Fingern. „Das dort ist Claras Schlüssel. Sie hat ihn Ihnen eigenmächtig und ohne Rücksprache mit uns gegeben.“
„Eigenmächtig?“ Keyra war empört. „Es war doch Großmutters Schlüssel, und damit auch ihre Entscheidung.“
„Eben nicht. Ein Schlüssel bleibt bei seinem Wächter bis zu dessen Tod, erst danach wird er weitergegeben. Und der Orden entscheidet, an wen er übergeben wird.“ Keyra hatte den Eindruck, als wollte Leopold noch etwas sagen, aber stattdessen schnaufte er kurz und kniff die Lippen zusammen.
Keyra packte die Wasserflasche zurück. „Das ist ziemlich unfair, finde ich.“
„Es geht dabei nicht um Fairness, sondern um Tradition.“ Leopold öffnete seine schwarze Trainingsjacke und zog sie aus. Darunter trug er ein helles Shirt. „Es gibt nicht viele Schlüssel, man kann sie nicht herumreichen wie irgendwelche beliebigen Schmuckstücke. Es war ja gar nicht klar, ob Sie das richtige Blut und die Gabe geerbt haben.“
„Weil mein Vater kein Zeitwächter ist, meinst du? Und was wäre dann geschehen?“
„Keine Ahnung. Sobald der Orden es herausgefunden hätte, nehme ich an, hätte man Ihnen den Schlüssel wieder abgenommen.“ Er ging zur Wand und ergriff zwei Holzstangen, die dort lehnten.
Keyra prustete. Na, das hättet ihr ja mal versuchen können. Sie kannte ihre Großmutter gut genug, um zu ahnen, wer den Kürzeren gezogen hätte. Herausfordernd deutete sie auf eine Kette, die am Ausschnitt von Leopolds Shirt aufblitzte. „Wenn das so streng geregelt ist, warum trägst du auch einen Schlüssel?“
Es war ein Schuss ins Blaue. Er ging daneben. Leopold sah erstaunt an sich herunter und zog dann den Anhänger hervor. Es war kein Schlüssel, sondern eine silberne Schlange, die sich in den Schwanz biss.
„Was ist das denn?“, fragte Keyra neugierig.
„Kein Schlüssel, wie Sie sehen“, meinte Leopold trocken. „Das ist ein Ouroboros. Ein Selbstverschlinger. Das Symbol des Ordens.“
„Krass. Und gibt es noch mehr, das du mir über den geheimnisvollen Orden erzählen kannst?“
„Nein.“ Er warf ihr eine der beiden Holzstangen zu. „Zumindest noch nicht. Es ist noch zu früh.“
Lustlos fing Keyra die Holzstange auf. „Was soll das denn jetzt werden?“
„Wir üben ein wenig Schwertkampf.“
„Schwertkampf? Echt jetzt?“
„Jawohl, und danach habe ich einiges an Lesestoff für Sie. So wie ich das sehe, besteht in geschichtlichen Grundkenntnissen dringender Nachholbedarf.“
Fassungslos ließ Keyra den Stab sinken. „Was? Wozu denn das?“
Leopold blieb unbeeindruckt und stützte sich auf den Stab. „Sie müssen vorbereitet sein – auf die nächsten Zeitreisen und auf die Prüfungen.“
Keyra starrte ihn an. „Prüfungen? Was denn für Prüfungen?“ Sie hatte bereits in der Schule alle Hände voll zu tun und konnte auf mehr Lernerei eigentlich verzichten.
Ihr Mentor seufzte. „Ich vergesse immer, dass Sie so wenig wissen. Ihnen werden bis zu Ihrem 18. Geburtstag drei Prüfungen gestellt, die uns zeigen sollen, ob Sie ihrer Aufgabe gewachsen sind.“
Keyra zog die Augenbrauen wütend zusammen. „Ich habe bereits drei Zeitreisen absolviert und bin dort meinen Aufgaben durchaus gewachsen gewesen.“
Leopold winkte ab. „Das kann Zufall gewesen sein. Ausreichend vorbereitet waren Sie jedenfalls nicht.“
„Das stimmt – weil mich niemand vorbereitet hat.“ Keyra musste sich beherrschen, um nicht wie ein kleines Kind trotzig mit dem Fuß aufzustampfen.
„Weil Ihre Großmutter uns zu spät über Ihre Berufung informiert hat.“ Nun wurde auch Leopold lauter. Er zügelte sich jedoch und rieb sich mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel. „Hören Sie, Keyra, das hatten wir doch alles schon. Sie müssen momentan nicht mehr wissen, als das, was das Wächterbuch und ich Ihnen sagen. Ich bin Ihr Mentor, ich soll Ihnen helfen …“
„Aber du hilfst mir nicht. Es würde mir helfen, etwas mehr zu erfahren. Ich will endlich verstehen, was hier vorgeht.“ Aufgebracht ging sie auf und ab und zählte an den Fingern ab. „Wo du gerade das Wächterbuch erwähnst: