GUARDIANS - Das Vermächtnis. Caledonia Fan
zeigte. Sein arabischer Vater, mit Whiskyglas und Zigarre in der rechten Hand, hatte dabei schützend den linken Arm um seine zierliche, einen ganzen Kopf kleinere Frau gelegt, die sich vertrauensvoll an seine Schulter schmiegte und glücklich lächelte.
Ein verschnörkelter, bronzener Kronleuchter erhellte den vorderen Teil des Raumes. Der hintere, der durch zwei marmorne Säulen optisch abgetrennt wirkte und jetzt im Dunkeln lag, beherbergte den Billardtisch und einen storchenbeinigen Schreibsekretär.
Die Möbel waren so alt wie der Landsitz selbst. Besonders die Ledersitzgruppe, auf denen sich die Guardians schon niedergelassen hatten, zeigte bereits deutliche Abnutzungsspuren. Doch Tariq duldete keine Veränderung in dem Raum, der früher, in seiner Kindheit, als Salon gedient hatte. Und die anderen liebten die schweren Möbel ebenso wie den flauschigen Teppich darunter, obwohl der aufgrund seiner wilden Musterung ziemlich hässlich wirkte.
Das Schießtraining würde heute Abend ausfallen. Gaz, ihr Waffentrainer, war vor ein paar Minuten erst von einer dreitätigen Reise zurückgekommen. Tariq hatte ihn kurz über das Vorgefallene unterrichtet. Selbstverständlich saß er nun mit hier, denn der Chef hatte ja angekündigt, den gestrigen Einsatz heute auswerten zu wollen. Sein Bruder Sadik, Senad und Shujaa waren hingegen noch nicht wieder da. Das "Triple-S" genannte Observierungs-Team hatte am Nachmittag gleich nach dem Training den Landsitz verlassen, um das Schloss zu erkunden und Hinweise auf Rayan zu finden.
Yonas musste auch wieder an der Besprechung teilnehmen. Es war wie ein Spießrutenlauf für ihn. Niemand hatte ihm Vorwürfe gemacht, aber seine Entführung hatte diesen verhängnisvollen Einsatz überhaupt erst erfordert. Unbehaglich sah er zu Koll hinüber. Der grüne Guardian war so alt wie er selbst und gestern Abend beinahe erschossen worden. Weil er, Yonas, sich schlimmer verhalten hatte als ein Anfänger!
Scham und Neid hielten sich die Waage bei den Gefühlen, die ihn momentan beherrschten. Scham über seine eigene Unzulänglichkeit, Neid auf die Kampferfahrung und die Ausbildung seiner Kameraden. Er war nicht einmal sicher, ob er dieses Wort überhaupt verwenden durfte, wenn er von ihnen sprach. Schließlich gehörte er gar nicht zu ihnen.
Wütend ballte er die Hände zu Fäusten und nahm sich vor, beim Training in Selbstverteidigung künftig aufmerksamer zuzuschauen, um schneller zu lernen. Selbst wenn er keine Waffe trug und voraussichtlich auch nie eine tragen würde, denn Tariq hatte seine Bitte, ein Guardian werden zu dürfen, bereits zweimal abgelehnt. Ohne Begründung. Offensichtlich sah der Chef kein Potenzial bei ihm und das zu wissen tat weh. Einzig die Aussicht, Ahmads Dolch zurückzubringen, schaffte es, dass er sich ein wenig besser fühlte.
Trajan wollte ebenfalls nicht hier sitzen. Diese ganze Auswertung interessierte ihn nicht im Mindesten. Mühelos brachte er das leise Mahnen seines Gewissens zum Schweigen, dass diese Einstellung eines Guardians unwürdig sei. Viel lieber würde er hinten in der Klinik sein als hier, doch der Chef war unerbittlich gewesen. Tanyel hatte seinen Platz dort eingenommen und ihn einfach vor die Tür gesetzt.
Jetzt waren Schritte auf den Steinfliesen im Foyer zu hören, die sich näherten, und gleich darauf trat Tariq ein. Wie heute Morgen schon richteten sich die Blicke aller erwartungsvoll auf ihn. Verblüfft registrierten sie den geöffneten obersten Hemdsknopf und die aufgekrempelten Ärmel. Das war ungewöhnlich für den Chef.
"Wir fangen an", meinte er, während er die schwere Holztür mit den kunstvollen Schnitzereien hinter sich schloss. "Die anderen kommen später. Sie sind noch im Schloss, um sich da etwas genauer umzusehen. Sadik will sich selbst ein Bild machen, weil er ja gestern Abend mit Team Gelb bei einem Einsatz in der Stadt war. Euch beide bitte ich, besonders gut zuzuhören, wenn er dann wieder da ist und uns mitteilt, was er herausgefunden hat."
Er sah erst Rhea bei diesen Worten an und dann Nakoa, den ruhigen jungen Mann mit dem südländischen Aussehen. Die beiden gelben Guardians warfen einander einen kurzen Blick zu und nickten.
Tariq nahm wie immer in einem der beiden Sessel am Kamin Platz und fuhr sich mit den Händen durch die fast nackenlangen braunen Haare. Dann stützte er die Ellenbogen auf die Armlehnen und legte die Fingerspitzen aneinander. Das war seine Denkerpose.
"Ich habe lange über den Verlauf des gestrigen Abends nachgedacht. Und ich denke, dass wir nichts hätten anders oder besser machen können. Das gleich am Anfang. Trotzdem", jetzt beugte er sich ein wenig nach vorn, weil er das verstohlene Aufatmen einiger Guardians bemerkt hatte, "ist es nur einigen glücklichen Umständen zu danken, dass das Ganze nicht noch schlimmer ausgegangen ist. Doch ich will über den Ablauf jetzt kein Wort weiter verlieren." Er ignorierte die verwunderten Blicke, die seine Zuhörer einander zuwarfen und lehnte sich wieder zurück. "Viel wichtiger ist, dass wir Mato Rayan dort vorgefunden haben und damit unserem Ziel, ihn endlich hinter Schloss und Riegel zu bringen, vielleicht einen großen Schritt nähergekommen sind."
Er sah, wie sich Aufregung in die Mienen der jungen Leute vor ihm schlich. Rayan war das Stichwort, das jeden aufmerken ließ.
"Deshalb soll es heute Abend nicht um das gehen, was ihr getan, sondern was ihr beobachtet habt", fuhr er fort. "Und ich meine diesmal nicht nur das, was Ahmad betrifft. Jedes Detail, was ihr dort bemerkt habt, könnte wichtig sein. Da während des gesamten Ablaufes jeder seine eigenen Beobachtungen gemacht hat, halte ich es für das Beste, wenn wir noch einmal kurz alles zusammentragen. Senad ist nicht hier, also schreibt Tiana."
Er machte eine Pause und wartete geduldig, bis Trajans Schwester den Laptop gestartet hatte, der auf dem Tisch stand. Erst als sie Tariq erwartungsvoll ansah, sprach er weiter.
"Zuerst zu dem Schloss im Wald. Ich habe nicht viel darüber herausfinden können. Es hat seit fast dreißig Jahren ein und denselben Eigentümer. Der Name, der im städtischen Grundbuchamt eingetragen ist, sagt mir jedoch nichts. Ich vermute, dass es eine Scheinidentität ist. Dieser Eigner hat außer dem Aufstellen der Betreten-Verboten-Schilder dort noch keinen Finger gerührt. Mit Sicherheit wohnt er auch nicht da. Seine Spur verliert sich im Nichts, doch ich habe den Verdacht, dass es Rayan ist. Warum, darauf komme ich noch zurück."
Aufmerksam verfolgte er Tianas über die Tastatur huschende Finger.
"Über das Gebäude selbst ist nicht viel bekannt. Verlassen seit achtzig Jahren, baufällig, einsturzgefährdet und teilweise bereits eingestürzt. Ihr habt die Trümmer selbst gesehen. Es wird von kaum jemandem betreten, obwohl es für jeden, der die Verbotsschilder ignoriert, frei zugänglich ist. Ein El Dorado für Liebhaber verfallener Gebäude. Gerüchte kursieren, dass es dort spukt, dass man Geräusche hört in den Gängen, Schritte, knarrende Dielen. Ich gebe nichts auf diese Dinge. Mich interessiert nur, Rayan hat Yonas dorthin entführen lassen." Hier sah er das zweitjüngste Mitglied der Hausgemeinschaft direkt an, allerdings ohne irgendeine Emotion dabei erkennen zu lassen. "Aber noch konnten wir nicht rausbekommen, warum er das tat."
Während er sich ein Glas Wasser einschenkte, wartete er wieder, bis Tiana fertig war mit Schreiben.
"Nun zu Rayan selbst. Der Mann ist gefährlich. Er kann Energiegeschosse und einen Schild erschaffen, ist also nicht nur Energienutzer, sondern ein starker Wandler."
"Also genau wie du", warf Yonas an der Stelle ein. "Nur dass du nicht gefährlich bist."
Das aufkommende Gelächter war verhalten, denn außer Trajan, der ja von Yonas erfahren hatte, zu was Tariq fähig war, wusste keiner, was der Blondschopf gemeint hatte.
Tariq warf einen raschen Blick in die Runde und sah in fragende Gesichter. Einen Augenblick zögerte er, dann stellte er sein Wasserglas ab und streckte die Hand aus.
Atemlose Stille stellte sich ein, als zwischen seinen Fingerspitzen knisternde, silbrige Funken und Blitze auftauchten. Sie sammelten sich in seiner Handfläche und wuchsen dort zu einem tennisballgroßen Energiegeschoss heran.
Er konnte förmlich spüren, dass sie ihn plötzlich mit anderen Augen betrachteten. Bisher hatte nur Ahmad so etwas zustande gebracht. Und gestern Abend waren ihnen die roten und grünen Energiegeschosse ihrer Gegner um die Ohren geflogen. Aber dass er auch so etwas konnte, das hatte wohl keiner von ihnen vermutet.
Doch er hatte nicht vor, jetzt näher darauf einzugehen. Mit einem leisen Puff