GUARDIANS - Das Vermächtnis. Caledonia Fan
vermag er Personen in einem Energiekäfig einzuschließen", fuhr er fort, als hätte er ihnen nicht gerade eben eine unerhörte Neuigkeit offenbart. "Das hat er mit Yonas getan, der ihn jedoch irgendwie auflösen konnte. Aber dazu kommen wir später noch. Er hat absolut loyale Untergebene, Energienutzer wie er selbst, die mit ihrer Energie Geschosse bilden. Ob sie ebenfalls Wandler sind und diese auch noch für andere Fähigkeiten nutzen, wissen wir nicht."
Tariq runzelte nachdenklich die Stirn. Energienutzern begegnete man nicht an jeder Ecke. Diese Fähigkeit war selten und dass Rayans Leute sie so offen vor ihnen demonstriert hatten, zeigte, dass sie sich überlegen fühlten. Und Wandler, also Nutzer, die ihre Energie in mehrerlei Formen anwenden konnten, wurden nicht geboren, sondern geschaffen. Ihre Energieform musste von jemandem modifiziert werden, um sie dazu zu befähigen.
"Aber wahrscheinlich nicht alle", wandte Hennak jetzt ein, "denn unsere Gegner haben keine Energie genutzt. Doch sie sind sehr gut ausgebildet", fuhr er fort und nach einem kurzen Moment des Zögerns fügte er hinzu: "Und sie sind besser als wir."
Trajan sah überrascht auf. Er glaubte fast sich verhört zu haben. Dass Hennak so etwas zugab, war wirklich ungewöhnlich. Der Freund hielt sich doch stets für einen großartigen Kämpfer und glaubte sich jedem Gegner ebenbürtig. Ein unauffälliger Blick in die Runde zeigte ihm, dass er nicht der Einzige war, den dieser letzte Satz erstaunt hatte. Selbst Tariq zog eine Augenbraue hoch, als er den roten Guardian musterte.
"Da bist du dir sicher?", hakte er nach.
Hennak ballte die Fäuste. Zorn ließ seine Ohren rot werden, während er verlegen auf den Teppich starrte. "Bin ich", stieß er widerwillig hervor. "Diese beiden Zwerge hatten uns echt in die Enge getrieben. Shujaa war schon verletzt und ich weiß nicht, was noch passiert wäre, wenn sie nicht plötzlich davongerannt wären. Keine Ahnung, wie es euch erging, aber ich vermute mal, es war ähnlich, weil keiner von euch mit einem Sieg über den Gegner geprahlt hat."
Tiana wechselte einen schnellen Blick mit ihrem Bruder. Zumindest bei ihnen war es genauso gewesen, Hennak hatte recht. Sie hatten es zu zweit nicht geschafft, ihre Gegnerin zu besiegen, und erleichtert aufgeatmet, als sie plötzlich davonstürmte.
Die Tür öffnete sich, Sadik, Senad und Shujaa kamen herein.
Der Chef wartete, bis die Nachzügler einen Platz gefunden hatten und der Nahkampftrainer sich in seiner gewohnten Art rücklings auf einen Stuhl gesetzt hatte. Dann schaute er ihn auffordernd an.
"Du hattest richtig vermutet, Tariq." Auf dem Gesicht des Trainers erschien ein verbissener Ausdruck, während er am Ständer des Kaminbestecks neben sich die mitgebrachte Bierflasche öffnete, was der Schürhaken mit einem vorwurfsvollen Klappern kommentierte. Nach ein paar durstigen Schlucken wischte er sich mit dem Handrücken über die Lippen und begann seinen Bericht.
Er lehnte am Kotflügel seines SUV und wartete auf die beiden "S", die das Triple-S vervollständigen würden. Tariq wollte, dass sie das Schloss erkundeten. Einfach nur herausfanden, ob sich Rayan ständig dort aufhielt und ob in dem baufälligen Gebäude noch etwas anderes zu finden war. Wonach konkret sie suchen sollten, darüber hatte der Chef nichts gesagt.
Es war heller Nachmittag. Falls sich jemand dort aufhielt, würde er sie mit Sicherheit bemerken, wenn sie dort herumschlichen. Sie hatten deshalb zuerst erwogen, als Liebhaber sogenannter "abandoned places" aufzutreten. Fototouristen, die oft mithilfe lebensgefährlicher Klettertouren verlassene Gebäude erkundeten. Das Schloss lud förmlich dazu ein.
Aber dann hatten sie sich doch für die Einsatzmontur entschieden. Bloß diesmal nicht schwarz, wie gewohnt, sondern Flecktarn.
Schritte wurden hörbar und er hob den Kopf. Sie kamen. Senad trug wie immer seinen Laptop im Rucksack. Ohne das Teil fühlte er sich fast nackt und es hatte ihnen schon wertvolle Dienste geleistet.
Er sah belustigt, wie Shujaa, der neben dem grünen Guardian lief, grinsend den Daumen hochreckte. Dass er trotz Trainingsverbot dabei sein konnte, verdankte er ihm. Er hatte das Vorhaben ganz klar als eine Observierung bezeichnet, was den Doc zähneknirschend nachgeben ließ. Dass der rote Guardian wie immer seinen Klappbogen samt Köcher in der Weste hatte, wusste er ja nicht.
Shujaas Aufgabe war es, nach Möglichkeit alle Räume zu scannen und eventuell anwesende Personen im Auge zu behalten. Es würde nicht leicht werden, denn der rote Guardian konnte seine Fähigkeit nicht permanent anwenden. Sie verursachte starke Kopfschmerzen bis hin zu Sehstörungen, wenn er sie zu oft oder zu lange nutzte. Zwar besserte sich das nach ein paar Stunden wieder, aber gerade heute konnten sie sich das nicht leisten.
Als sie nach zehnminütiger Fahrt die löchrige Zufahrtsstraße hinter sich gelassen hatten und das Schloss vor ihnen zwischen den Bäumen auftauchte, suchte Sadik einen Platz, um den Wagen zu parken. Den Rest der Strecke würden sie zu Fuß gehen. Der Plan war die Mauer zu überwinden und sich dann auf dem verwilderten Grundstück durch die Büsche zu schlagen. Am Tor gab es mit Sicherheit eine Kamera oder einen Bewegungsmelder, der sie nicht erfassen durfte.
Die Mauer war schnell überklettert, wobei Shujaa wegen seiner Verletzung ein bisschen Hilfe brauchte. Rasch duckten sie sich danach zwischen das mannshoch wuchernde Unkraut. Shujaa bekam Zeit, das Gelände zu scannen. Währenddessen ließ Sadik den Blick ruhig und konzentriert durch das hohe Gras schweifen. Jedes Detail in der gesamten Umgebung musterte er kritisch.
Ein paar Meter links von ihnen konnte er den Eingang sehen. Das große, schmiedeeiserne Tor hing verrostet und schief in den Angeln. Es war mit einer Kette gesichert und halb geschlossen. Efeu hatte sich um die geschmiedeten Stäbe gewunden, als wollte er das Tor in dieser Position unverrückbar fesseln. Brennnesseln und Brombeeren eroberten sich den breiten, geschwungenen Weg zurück, der zu dem wuchtigen Hauptgebäude hinaufführte, und kletterten an der steinernen Brüstung der großen Terrasse hinauf.
Das Tor war definitiv kein von Fahrzeugen genutzter Eingang. Alles schien verlassen und wirkte, als hätte seit Jahrzehnten kein Mensch das Areal betreten.
Shujaa war fertig mit dem Scan. Auf den besorgten Blick von Sadik konnte er beruhigend nicken. "Niemand da", flüsterte er, "keine Menschenseele im Gebäude."
Zweifelnd sah der Trainer ihn an. "Keiner drin?", vergewisserte er sich. "Das kann doch nicht sein."
"Ich kann niemand wahrnehmen." Shujaa hob lediglich die Schultern.
Sadik beschloss, das erstmal zu ignorieren und trotzdem unsichtbar zu bleiben. Wo würde ich die nächste Kamera installieren, überlegte er. Welchen Bereich müsste sie erfassen? Die lange, sanft geschwungene Auffahrt selbstverständlich und die war ideal einsehbar von dem trockenen Springbrunnen aus, der sich auf dem Platz vor der Freitreppe befand.
"In Ordnung. So schnell wie möglich zum Gebäude hinüber. Nutzt jede Deckung. Und haltet euch von dem Brunnen fern."
Zwei hochgereckte Daumen, dann verriet kaum hörbares Rascheln, dass sich die beiden Guardians entfernten. Nur Sekunden später standen alle drei leicht außer Atem mit dem Rücken an die Wand des großen Gebäudes gepresst.
Sadik musterte die steinerne Brunnenfigur. Es war eine Frau, die einen großen, steinernen Krug unter dem Arm hatte, aus dem in früheren Zeiten unentwegt Wasser in das Becken geplätschert sein musste. Heute war es lediglich mit trockenen Blättern und Moos gefüllt. Eine Kamera konnte er nicht entdecken.
"Wartet noch." Sadik hielt Senad am Arm zurück, spähte um den Mauervorsprung und ließ seinen Blick prüfend über die Nische mit dem großen, eichenen Eingangsportal wandern. Wenn dort auch eine Kamera angebracht war, dann konnte sie den Platz vor der Freitreppe samt dem Brunnen perfekt einsehen. Er zögerte, durch diese Tür zu gehen.
"Wir umrunden das Schloss einmal", verkündete er entschlossen. "Vielleicht finden wir einen zweiten Eingang. Auf geht's!"
Zehn Minuten später waren sie auf der anderen Seite der breiten Portal-Nische wieder angekommen. Sie hatten eine Runde um das Gebäude gemacht und zwei weitere Eingänge gefunden. Vor der doppelflügeligen Terassentür, deren kleine Scheiben als Glassplitter überall auf dem Boden verteilt waren, hatte jedoch jemand ein massives Gitter angebracht.