Silvia - Folge 1. Jürgen Bruno Greulich
In früheren Jahrhunderten hatte man in Ketten gelegte Sklavinnen öffentlich auf dem Marktplatz feilgeboten, das seltsam wohlige Kribbeln, das sich bei dieser Vorstellung in Silvias Beschämung mischte, irritierte doch sehr. Zuletzt bekam Jasmin vom Aufseher die Ketten angelegt, die an den Füßen musste sie allerdings selbst anschließen, um ihm das Niederknien vor ihr zu ersparen, was natürlich ein grober Stilbruch gewesen wäre.
Stöckelnd mit gehemmten Schritten und untermalt vom schmählichen Rhythmus des Kettenklirrens, folgten sie ihm die Treppen hoch, eine stumme Sklavinnenprozession, deren Anblick vermutlich so manches Männerherz hätte höherschlagen lassen. Oben wandten sie sich wieder nach rechts, gingen an der Küche vorbei und betraten den nächstfolgenden Raum. Auch dieser bot Blick in den Park. Es regnete noch immer von einem unverändert grauen Himmel. Ob Gott eine Sintflut herniederschickte auf diese lasterhafte Welt? Aber nein, das war ja nicht möglich, da die Regeln sein Amt übernommen hatten und diese gegen Lasterhaftigkeit nichts einzuwenden fanden. Mitten im Raum stand eine schmucklos gedeckte Tafel mit drei Stühlen an jeder Seite. Die Stirnseiten blieben leer, da sich kein Oberhaupt bei ihnen am Tisch niederließ und keine von ihnen ein solches sein konnte. Der Platz des Aufsehers befand sich an einem kleinen Tisch neben dem Durchgang zur Küche. Der Boden war mit Parkett belegt, die Decke rötlich getäfelt und die Wände wurden von Streifentapeten in dezentem Gelb und samtigem Rot bedeckt. Die Einrichtung war spartanisch, es gab eine barocke Kommode mit einer Porzellanfigur darauf, ein anmutiges Mädchen im langen Gewand, reitend auf einem Stier, die Entführung der Europa durch Zeus vielleicht. An einer Wand hing ein großformatiges Ölgemälde, auf dem einige junge Frauen, nein, Mädchen natürlich, nackt hingelagert auf einer Wiese saßen, im Hintergrund erhob sich auf einem Hügel dunkel und bedrohlich eine mittelalterliche Burg, es war ein sinnliches Bild, das sicherlich nicht zufällig auf Schloss Sinnenhof geraten war.
Die Mädchen rückten die Stühle an der Tafel zurecht, nahmen aber nicht Platz, sondern blieben abwartend stehen. Nach einem Augenblick der Verwunderung begriff Silvia den Grund: Die leidliche Bewegungsfreiheit der Hände reichte nicht bis zum hinteren Teil des Gewandes, sie konnten es nicht lüpfen und durften sich also nicht setzen, es war Regel … elf? Vielleicht auch Regel zehn, die sie aufrecht hielt, ganz sicher war sich Silvia nicht.
Die Lösung des absurden Problems war einer der Jungs für alles, der etwas Größere der beiden, vielleicht auch der etwas Ältere, der mit seiner glatten, smarten Miene und den schwarzen flinken Augen besser in eine Diskothek gepasst hätte als in diese verwunderlichen Hallen. Er trug die gleiche Kluft wie gestern und kannte seine Aufgabe, ging wortlos von einer zur andern, beugte sich zum Saum des Gewandes hinab und hob es hinten hoch, damit sie sich setzen konnten, tat es galant und ohne sie zu betatschen. Flüchtig wie ein Windhauch glitten seine Hände über Silvias Beine, Berührungen, die sich nicht vermeiden ließen, dann sank sie nieder aufs harte Lederpolster des Stuhls. Der Junge huschte in die Küche, kam mit einem zweigeschossigen Servierwagen zurück und verteilte die Speisen auf dem Tisch.
Es gab diverse Salate, Weißbrot, Oliven, Schafskäse, geräucherten Lachs, alles appetitlich angerichtet, dazu Säfte, Mineralwasser und Tee. Sie aßen schweigend, ignorierten die Ketten so gut es ging, passten nur auf, dass sie nicht gegen die Teller klirrten und kein Glas umwarfen, meisterten das Mahl unter den schwierigen Bedingungen halbwegs manierlich.
Maria allerdings aß nur wenig, fast gar nichts. Je näher die Stunde der Bestrafung rückte, desto stiller und kleiner wurde sie. Manch einfühlsamer Blick versuchte sie zu trösten, manch Lächeln sie aufzuheitern, vergebens, was half schon Mitleid, es nahm nicht die Furcht, mehrte sie eher durch die Erinnerung an ihre bedauernswerte Lage. Weh würde es trotzdem tun.
Silvia nahm sich vor, bei nächster Gelegenheit mit dem intensiven Lernen der Regeln zu beginnen. Wann aber gab es die Zeit dafür? Bis jetzt hatte der Plan des Tages dafür noch keine Lücke gelassen und auch nach dem Essen gab es eine solche nicht.
Der Aufseher, der ebenfalls gespeist hatte, führte sie wieder in den Mädchenraum hinunter. Dort wurden sie bereits erwartet, von seinem blonden Kollegen und der Herrin, die mit steinerner Miene mitten im Raum stand wie eine Inquisitorin (die es aber nie gegeben hatte, da ein solches Amt stets Männern reserviert gewesen war). Sie trug ein ähnlich elegantes Kleid wie gestern, hochgeschlossen, knielang, eng anliegend, wieder in Schwarz, dem Anlass angemessen. Ihre Beine wurden heute von keinen Strümpfen umhüllt, die nackten Füße steckten in schwarzen Stöckelschuhen und ihr Make-up war dezent und geschmackvoll, womit sie zumindest in diesem Punkt den Regeln entsprach, die für sie natürlich nicht galten. Ihr Haar war nicht hochgesteckt wie gestern, sondern im Nacken mit einem samtenen roten Band zusammengebunden. Eigentlich, dachte Silvia verwundert, war sie sehr schön, stolz und edel, dabei hintergründig sinnlich.
Unter ihrem entschlossenen Blick aber senkten die Mädchen die Lider. Und erschreckend kalt klang ihre Stimme: „Tritt vor, Maria!“
Zaghaft machte Maria zwei Schritte auf sie zu.
„Du weißt noch, weshalb du bestraft wirst?“
„Ja, meine Herrin, ich weiß es noch.“
„Dann sage es mir!“
Kaum konnte man sie hören, die Worte des Schuldeingeständnisses. „Ich werde bestraft, weil ich die Regel zwanzig nicht aufsagen konnte.“
„Es geht nicht ums Aufsagen, sondern ums Begreifen der Regeln. Wer sie nicht zitieren kann, hat sie auch nicht begriffen.“ Die Herrin stutzte, überlegte, dass es da wohl einen Umkehrschluss gab, einen unzulässigen, und kam ins Grübeln. „Allerdings kann man sie auch lernen, ohne sie zu begreifen. – Aber egal. Kannst du sie jetzt vortragen?“
„Ja, meine Herrin, jetzt kann ich es.“
„Dann tu es!“
Maria zitierte die Regel zwanzig fehlerfrei und ohne Stocken, doch änderte das ihr Schicksal nicht.
„Hättest du es gestern so gut gekonnt, müssten wir jetzt nicht hier sein.“ Bekümmert nickte die Herrin dem blonden Aufseher zu.
Dieser nahm Maria mit einem winzigen Schlüssel die Ketten ab, auch an den Füßen, offenbar war es doch nicht so schlimm, wenn er vor ihr niederkniete, war ja kein Akt der Demut, sondern Notwendigkeit, da keines der Mädchen diesen kultischen Schlüssel jemals in Händen halten durfte. Er richtete sich auf und streifte die dünnen Träger des Gewandes von ihren Achseln, so behutsam, als fürchte er, dass sie zerreißen könnten unter seinen groben Kerkermeisterpranken. Derweil machte sich der Dunkelhaarige am Flaschenzug zu schaffen und mit einem kaum vernehmbaren Quietschen senkte sich die Kette von der Decke herab. An ihrem Ende befand sich ein eiserner Ring, von dem zwei kurze dünne Kettchen baumelten, die an Marias Armbändern angeschlossen wurden. Die Kette wurde wieder nach oben gezogen und zwang Marias Arme in die Höhe, bis sich ihr Körper wie ein Bogen spannte und sie auf den Fußballen stand. Geschlossen waren ihre Augen, angstvoll kam ihr Atem und hilflos wandte sie den Kopf zur Seite, als der Blonde nah vor sie trat. Er öffnete die drei Schlaufen des Gewandes, ohne sie mehr als nötig zu berühren, ließ es zu Boden sinken und trat einige Schritte zurück, um sich in Sicherheit zu bringen. Was nun kam, gehörte ihr alleine. Hinter ihr stand der Dunkelhaarige in Position mit der Peitsche in der Hand. Sensibel sah er damit wahrlich nicht aus, nicht wie ein Künstler, sondern wie ein roher Folterknecht, der ja auch war.
„Zehn Hiebe“, sprach die Herrin.
Er holte aus, sirrend pfiff die Peitsche durch die Luft und mit einem hässlichen Klatschen traf sie Marias Rücken. Schluchzend bäumte sich Maria auf, wimmernd sank sie in sich zusammen und wurde vom nächsten Hieb gleich wieder hochgerissen. Ihr Schluchzen wurde zum qualvollen Schrei, den die dicken Mauern gefangen hielten, verzweifelt zerrten ihre Hände an den Ketten, panisch versuchte sich ihr Körper den Hieben zu entwinden, vergebens. Rote Striemen bemalten ihren Rücken und den Po, es war barbarisch, auch für eine Zuschauerin kaum zu ertragen; verzweifelt schloss Silvia die Augen und öffnete sie erst wieder, als die Peitsche ruhte und Marias Schreie zu gepeinigtem Wimmern verebbten. Sie hatte es überstanden. Die Kette senkte sich herab und Marias Hände wurden vom Blondhaarigen befreit. Er führte sie in ihre Zelle, hielt sie am Ellbogen, gab ihr die Stütze, die sie nicht brauchte.