Silvia - Folge 1. Jürgen Bruno Greulich

Silvia - Folge 1 - Jürgen Bruno Greulich


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müssen klar und verständlich sein.

      Regel 18

      Es wird erwartet, dass die Mädchen niemals die Unwahrheit sagen. Alle Fragen der Herrin, des Gebieters und der Behüter müssen gewissenhaft, wahrheitsgemäß und ohne Auslassungen beantwortet werden.

      Regel 19

      Die Simulation von Unwohlsein oder Krankheit ist den Mädchen nicht gestattet.

      Regel 20

      Die Mädchen müssen in der Lage sein, alle aufgeführten Regeln einschließlich des Vorworts, der Anmerkung sowie der Ausnahmen und Unterregeln wortwörtlich und ohne Zögern oder Stocken aufzusagen.

      Anmerkung

      a) Das Zuwiderhandeln gegen eine der Regeln wird mit Peitschenhieben bestraft, deren Anzahl von Fall zu Fall festgelegt wird.

      b) Verstöße gegen Regel 18 und 19 haben zusätzlich die Verhängung einer weiteren Strafe zur Folge, über die von Fall zu Fall entschieden wird.

      Das Buch des Mädchens

      Konsterniert klappte Silvia das Buch zu und ihr Blick schweifte zu Claudia, deren linkes Knie ihr rechtes berührte. „Ist das wirklich ernst gemeint?“

      Claudia nickte.

      Es war eine überflüssige Frage gewesen. Antwort hätten auch die demütige Sitzhaltung, Marias Furcht vor der drohenden Peitsche und der stoische Aufseher gegeben, der Wächter der absonderlichen Regeln. Man hatte tatsächlich vor, sie zur Sklavin abzurichten, schickte sie in ein dichtes Gestrüpp von Verhaltensregeln und Anweisungen, auf dass sich ihr freier Wille darin verlöre. Und es gab keinen Fluchtweg aus dem Dickicht, kein Versteck, es gab nur Fügsamkeit als einziges Mittel, um mit halbwegs heiler Haut davonzukommen. Seltsam nur, dass unter diesen Umständen kein Klima der Verzweiflung herrschte. Woher rührte sie nur, die gefasste Gelassenheit der Mädchen, die so wirkten, als könne man sich mit den hiesigen Gebräuchen durchaus arrangieren, und weshalb dachte sie selbst darüber eher staunend denn entsetzt nach?

      Aber was war mit dieser einen Regel, in der davon die Rede war, dass man die Mädchen „von Zeit zu Zeit einem der Gäste des Hauses zuführte“? Was waren das für Gäste? Aber nein, das war nicht die richtige Frage. Diese lautete: Wollte man sie wirklich irgendeinem wildfremden Mann überlassen? Konnte sie das? So etwas hatte sie noch nie getan, hatte ihren Wolfgang noch nie betrogen. Aber es ging nicht um betrügen, es war etwas anderes: Gab man sie den Wünschen irgendwelcher unbekannter Männer preis, dann machte man sie zur Prostituierten! Ein kühler Schauer rieselte über ihre Haut und irgendwo tief im Verborgenen regte sich ein verwirrend aufregendes Kribbeln.

      Welche Regel war das noch mal? Sie klappte das Buch wieder auf, schaute nach und wandte sich flüsternd an Claudia. „Was bedeutet eigentlich die Regel vierzehn?“

      Claudia musste nicht lange nachdenken, um zu wissen, was diese Regel besagte, kannte sie offenbar tatsächlich alle auswendig. „Es bedeutet das, was da steht und was du dir vermutlich nicht vorstellen kannst.“

      „Irgendwelche fremde Männer?“

      „Ja.“

      „Hast du schon einmal …?“

      „Übermorgen.“ Bangen trat in Claudias Blick. „Übermorgen ist es das erste Mal für mich. Ich bin noch nicht lange hier und man muss darauf vorbereitet sein.“ Glomm neben dem Bangen auch ein erwartungsvolles Funkeln in ihren Augen? Vermutlich täuschte Silvia sich.

      „Und wie sieht diese Vorbereitung aus?“

      „Alles hier ist Vorbereitung darauf. Du wirst schon sehen.“

      Einer der seltsamen „Jungs für alles“ schleppte auf einem runden großen Tablett einige Flaschen Fruchtsaft und Mineralwasser, dazu fünf Gläser herein und stellte es auf einen Tisch. Erschrocken sah Silvia, dass er sich ihr näherte. Was wollte er? Es war der mit dem schwarzen kurzen Haar, das glänzte vor Gel. Er war noch so gekleidet wie bei der Begrüßung, unter der roten Weste spross spärliches dunkles Haar auf der gebräunten Haut der schmächtigen Brust. Er blieb vor ihr stehen und schaute zu ihr herab. „Magst du ein Abendbrot haben? Du hattest ja noch nichts und die Mädchen haben bereits gegessen. Es gibt Schnittchen mit Lachs, Schinken oder Käse, wenn du möchtest, auch Sushi.“ Zudringlich wie eine ungenierte Hand schweifte sein Blick über ihre kaum verhüllte Haut, schwer lastete sein anzügliches Lächeln auf ihr; ja, alles war Vorbereitung darauf, auch er.

      „Vielen Dank, aber ich habe keinen Appetit.“ Leise klang ihre Stimme und alles andere als sicher. Selbst dieser junge und keineswegs imponierende Bursche flößte ihr Respekt ein. Mit einem Achselzucken wandte er sich ab und erleichtert sah sie ihn gehen.

      Schweigend saß derweil der Aufseher in seinem Sessel bei der Tür. Er hielt ein Buch in der Hand, doch schien er nicht zu lesen, sondern halb zu dösen. Möglicherweise aber lauschte er den Gesprächen der Mädchen, es gab ja viele verbotene Themen und eigentlich mussten sie jedes Wort auf die Goldwaage legen. So war er eine unentwegt präsente Drohung, dieser hünenhafte Kerkermeister. Gar zu grob, brutal und unbarmherzig aber sah er gar nicht aus. Sein Gesicht wirkte offen, beinahe gutmütig, die Lippen waren nicht schmal zusammengekniffen, sondern wulstig geschwungen, sinnlich fast, und der Blick seiner blauen Augen glitzerte eher sympathisch denn furchteinflößend.

      Ein Aufseher blieb er trotzdem und natürlich erfülle er gewissenhaft seine Pflicht, so berichtete Isabel flüsternd (was gegen die Regeln verstieß). Sie hatte in einem Sessel in Silvias Nähe Platz genommen und beugte sich zu ihr herüber. „Fast jeden Regelverstoß meldet er der Herrin, es sei denn …“ Sie verstummte, da er den Blick mahnend hob, räusperte sich schuldbewusst und zuckte hilflos mit den Achseln, sie war eine Frau und Frauen mussten miteinander reden, das war ein Naturgesetz.

      Er akzeptierte es, wandte sich kopfschüttelnd wieder seinem Buch zu und Silvia erfuhr nicht, was dieses „es sei denn“ meinte, wagte sich danach nicht zu erkundigen.

      Was war nur aus ihr geworden, dass sie sich vor einem Aufseher fürchten musste, der über die Einhaltung schmählicher Regeln achtete, die strenges Gesetz für sie waren, wie hatte sie sich auf so etwas nur einlassen können? Warum begehrte sie nicht auf, weshalb verlangte sie nicht, augenblicklich nach Hause zurückzukehren? Würde man sie wirklich gegen ihren erklärten Willen festhalten? Es wird dir nichts geschehen, was du dir nicht tief in deinem Herzen wünschst, hatte die Herrin behauptet. Sollte sie etwa recht haben, war es mehr als nur Furcht, die sie schweigen, erdulden und befolgen ließ, war das möglich?

      Maria gesellte sich zur kleinen Gruppe, blieb neben dem Sofa stehen, schaute mit dem Versuch eines Lächelns zu Silvia herab. „Willst du mal in deine Schublade schauen?“

      „Schublade? Was meinst du damit?“

      Maria meinte eine Schublade, nichts anderes, kein Codewort für etwas Obszönes, wie Silvia im ersten Moment befürchtet hatte. Sie befand sich im schwarzen Schrank, für jedes der Mädchen gab es eine, jede mit einem Namensschild versehen, nur eine der sechs war namenlos.

      „Was ist da drin?“, fragte Silvia misstrauisch. „Noch mehr Regeln?“

      „Aber nein. Es sind Dinge, die wir für den Unterricht brauchen. Und manchmal gibt es noch eine kleine Überraschung. Schau doch mal.“

      Silvia schaute mal, wenn auch mit dem Argwohn, der ihr hier im Hause geboten schien. Doch fand sie nichts Anstößiges darin, sondern einen Schreibblock, Briefpapier, ein dünnes Büchlein ohne Titel, ein Buch über Frankreich, das sie zum vorgeblichen Urlaubsland erwählt hatte, ein Deutschbuch mit Grammatikregeln (Regeln, also doch!) und ein Buch mit Sagen der griechischen Mythologie. Auch das Adressbuch, das sie mit hierhergeschleppt hatte, befand sich darin – und eine blau eingebundene Kladde mit unlinierten Seiten und einem Lesebändel, genau eine solche, die sie als Tagebuch verwendete.

      Sie nahm sie ebenso erfreut wie verwundert heraus. „Wie kommt es, dass ich so etwas hier finde?“

      „Die Herrin fragt unsere Gebieter nach unseren Vorlieben und Wünschen.“

      Silvia


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