Der neue Sonnenwinkel 81 – Familienroman. Michaela Dornberg
der Gürtellinie lagen?«
Ein wenig irritiert schaute Roberta ihre Freundin an.
»Wie kommst du denn darauf, Nicki? Ich habe von Max nichts mehr gehört, und bei unserer letzten Begegnung war er richtig nett und wollte mir sogar helfen. Nein, ich bin überzeugt davon, dass ich auch nichts mehr von ihm hören werde, seit er auf diese Goldmine gestoßen ist, die ihm ein sorgenfreies, mehr noch, ein Leben ermöglicht, bei dem er mit beiden Händen das Geld dieser neuen Frau ausgeben kann.«
Nicki zuckte die Achseln.
»Dann weiß ich nicht, was los ist. Ich finde, jetzt ist es allerhöchste Zeit, dass du es mir erzählst.«
Nun hatte sie keine andere Wahl, auch wenn es ihr überaus peinlich war. Andererseits musste ihr vor Nicki nun wirklich nichts peinlich sein. Sie fing an, in aller Ausführlichkeit zu erzählen, und am Ende sagte sie: »Nicki, ich bin überzeugt davon, dass ich nach unserem Telefonat nicht eingeschlafen, sondern aufgestanden bin. Ich habe geduscht, ich habe mir Kaffee gekocht, und dann hat es geklingelt, und Lars stand vor der Tür.«
Lars, Lars, Lars, dachte Nicki bekümmert. Roberta würde niemals aufhören, an ihn zu denken, mal mehr, mal weniger. Musste sie ihre Freundin vor sich selbst schützen?
»Es war ein Traum, Roberta, finde dich damit ab.«
Roberta schüttelte den Kopf.
»Es war kein Traum, denn ich bin nach unserem Telefonat nicht eingeschlafen. Deswegen bin ich jetzt so durcheinander und frage mich, was das alles zu bedeuten hat, wie es zusammenhängt.«
Arme Roberta!
Die war ja wirklich vollkommen durch den Wind!
Als spräche sie zu einem kleinen Kind, erklärte Nicki: »Roberta, du glaubst, nach unserem Anruf nicht wieder eingeschlafen zu sein.« Roberta wollte sofort widersprechen, doch Nicki ließ es dazu nicht kommen.
»Okay, wo hast du, deiner Meinung nach, den Kaffee getrunken?«
Die Antwort kam prompt.
»Hier, an diesem Tisch.«
Nicki nickte.
»Alma ist nicht da, konnte nichts wegräumen. Und ich glaube nicht, dass du deine Kaffeetasse in die Küche gebracht hast, oder? Ich sehe nur die, die vor dir steht. Vermutlich hast du dir den Kaffee erst nach dem Traum gekocht, oder? Und war die Kaffeemaschine benutzt oder unbenutzt?«
Roberta musste nicht lange überlegen, sie stimmte Nicki zu, es hatte keine Tasse gegeben, die Kaffeemaschine war nicht benutzt worden.
Roberta musste eine Patientin oder einen Patienten nur ansehen und wusste schon, was mit ihm los war. Für ihr eigenes Verhalten jedoch hatte sie in diesem Moment keine Erklärung, und alles verunsicherte sie nur noch mehr.
»Nicki«, erkundigte sie sich bang, »bin ich dabei, meinen Verstand zu verlieren?«
Nicki schüttelte den Kopf.
»Nein, die Vergangenheit hat dich wieder mal eingeholt, diesmal mit voller Wucht, weil du noch nicht mit ihr abgeschlossen hast. Auch wenn es sehr schmerzhaft ist, finde dich damit ab, dass Lars nicht mehr am Leben ist. Seine Schwester hat es getan, und das war gut so. An was klammerst du dich eigentlich, Roberta? Dort, wo Lars verschwunden ist, kann niemand überleben. Ich hab dir von Lennart erzählt, meinem Glück mit ihm. Das hast du mit in deine Träume genommen und auf dich und Lars übertragen. Ich bin keine Traumdeuterin, aber so kann ich es mir vorstellen. Das ist auch sehr naheliegend.«
Diese Worte enttäuschten Roberta, weil sie von ihrer Freundin etwas anderes erwartet hatte.
»Du siehst es nicht als ein Zeichen?«, wollte sie wissen. Damit schmiss Nicki doch sonst immer herum. Und wenn das, was sie da erlebt hatte, kein Zeichen war, dann wusste sie wirklich nicht weiter. Sie schaute Nicki an. Und ihre Enttäuschung wuchs ins Unermessliche, als Nicki den Kopf schüttelte und sagte: »Nein, es war ein Traum. Wofür sollte es denn, deiner Meinung nach, ein Zeichen sein?«
Oh Gott!
Wie sollte sie das nun erklären?
»Dass Lars lebt, dass er möchte, dass wieder nach ihm gesucht wird.«
Nicki konnte nicht glauben, dass diese Worte aus dem Mund ihrer Freundin gekommen waren, die sie wegen ihrer Klugheit, ihres klaren Verstandes immer bewundert hatte. Sie war erst einmal nicht in der Lage, etwas zu erwidern. Und vielleicht war es ein wenig brutal, was dann aus ihrem Mund kam. Sie konnte einfach nicht anders.
»Roberta, Lars ist tot, und das weißt du.«
Es war still im Raum, man hätte das Herunterfallen einer Stecknadel hören können. Nicki bekam ein schlechtes Gewissen, doch sie konnte ihre Worte nicht zurücknehmen, weil sie zutrafen. Sie war sich ihrer Sache absolut sicher.
Irgendwann warf sie Roberta einen verstohlenen Blick zu.
Ihre Freundin sah zum Gotterbarmen aus. Schon wollte sie aufspringen, zu ihr eilen, sie in den Arm nehmen. Es fiel Nicki schwer, diesem Impuls nicht zu folgen. Ihr Verstand sagte ihr, dass sie das jetzt lassen musste. Damit würde sie Roberta nicht helfen. Was war bloß los mit Roberta? Wie hatte sie sich da so sehr hineinsteigern können, dass bei ihr Realität und Traum ineinander verschwammen? Klar war Lars Magnusson ein besonderer Mann gewesen, aber auf seine Weise auch ziemlich exzentrisch, Er hatte schon sein eigenes Ding gemacht, war als einsamer Wolf seinen Bedürfnissen nachgegangen. Andererseits hatte er natürlich auch Dinge getan, die einem schon den Atem nehmen konnten, die einem imponierten. Da war einmal der gemeinsame Stern, den er für sich und Roberta gekauft hatte und der nun für alle Ewigkeit beider Namen trug. Und das Buch »Sternenstaub«, das er Roberta gewidmet hatte, das war unglaublich. Sie wusste es, denn sie hatte es nicht nur ins Japanische übersetzt. Und er hatte Roberta heiraten, zu ihr ziehen wollen. Robertas Traum wäre in Erfüllung gegangen. Es war nicht dazu gekommen. Und war es das, weswegen sie ihn nicht loslassen konnte? Nicht loslassen wollte? Idealisierte Roberta jetzt diese Etappe ihres Lebens? Machte sie sich etwas vor, was es in Wirklichkeit vermutlich niemals gegeben hätte?
Nicki war eigentlich nicht jemand, den man um Rat fragte, was Beziehungen betraf. Sie selbst hatte zu viele gegen die Wand gefahren, war verlassen worden oder hatte ihrerseits den Lover verlassen. Eines allerdings war ihr klar, sie konnte, was Roberta und Lars betraf, nicht länger um den heißen Brei herumreden. Um auf Robertas Gefühle Rücksicht zu nehmen, hatte sie meistens geschwiegen, oder sie hatte lieber über sich selbst geredet, und das ging bei ihr immer. Sie hatte Roberta sich und ihren Gefühlen selbst überlassen. Dafür schämte sie sich jetzt. Warum hatte sie nicht bemerkt, wohin das alles steuerte? Ganz einfach, weil ihre Freundin für sie stark war, weil sie alle Probleme bewältigte. Roberta war Nickis Fels in der Brandung gewesen, auf den man alles abladen konnte. Sie hatte nicht Robertas Verletzlichkeit gesehen, nicht bemerkt, dass sie, was Lars betraf, nicht mehr war als ein Blatt im Wind. Nicki schämte sich dafür.
Nach einer ganzen Weile sagte sie leise: »Roberta, lass es los. Behalte all deine Erinnerungen in deinem Herzen, und räum dein Haus auf. Es ist fast ein Museum für Lars. Wohin man schaut, sieht man seine Fotos, ernst, lachend, mit oder ohne Hut. Überall liegt etwas von ihm herum. Ständig auf alles zu sehen, das frisst dich auf, lässt dich nicht zur Ruhe kommen. Ich bin mir sicher, dass Lars es nicht gewollt hätte.« Eigentlich wollte Nicki noch mehr sagen, doch sie sah, wie Roberta in sich zusammenfiel, wie sie leise vor sich hinweinte. Einem Impuls folgend, wollte Nicki aufspringen, zu ihr eilen, sie tröstend in ihre Arme nehmen. Sie ließ es bleiben. Damit half sie Roberta jetzt nicht. Da musste sie allein durch. Es fiel ihr schwer, so inaktiv zu sein. Und irgendwann hielt Nicki es nicht länger aus. Sie sprang auf, murmelte: »Ich koche uns dann jetzt mal einen Kaffee.«
Sie war sich nicht sicher, ob Roberta ihre Worte überhaupt mitbekommen hatte. Nach einem letzten Blick auf ihre in sich zusammengesunkene Freundin ging sie in die Küche, in der sie sich sehr gut auskannte. Schließlich war sie oft genug hier gewesen, na ja, nicht ganz so oft, wie es hätte sein können. Ihre Meinung über den Sonnenwinkel, in dem sie bisher nicht hatte heimisch werden wollen, musste sie eh revidieren.
Lennart wohnte