Strategie als Beruf. Maximilian Terhalle

Strategie als Beruf - Maximilian Terhalle


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unter Bundeskanzlerin Angela Merkel umgeht bisher tunlichst den Komplex the Donald, getrieben von der Furcht, innenpolitisch für politische Nähe zur US-Regierung kritisiert zu werden. Es gleicht dabei der Quadratur des (transatlantischen) Kreises, den Versuch zu unternehmen, den 500-Kilo-Gorilla im Zimmer zu übersehen. Ohne strategisch ausgerichtete Analyserahmen grenzt dies gleichsam an Arbeitsverweigerung und verleitet zu den genannten unbedachten Lösungen. Zu lange, so scheint es, hat sich bei vielen die Annahme erhalten, amerikanische Außenpolitik könne ohne den US-Präsidenten gedacht und analysiert werden. Das Bias, das in dem Glauben besteht, dass die sogenannten Erwachsenen im Raum, mithin die Generäle John F. Kelly, Herbert R. McMaster sowie James N. Mattis, Donald Trump zähmen könnten, ist durch die Entlassung von allen drei längst als erstaunlich naiv enttarnt worden (Terhalle 2017). Im Grunde zeigt ja auch der höchst undeutsche Verlass auf politische Militärs, wie wenig Energie der obamaverträumte Regierungsapparat darauf verwendet hat, Amerikas politische Führung seit 2017 ernst zu nehmen und sie nicht nur als Moment des erhofften schnellen Übergangs zu betrachten. Vor allem aber hat es Europa versäumt, Trumps Amerika als strategische Aufgabe zu betrachten.

      Es ist in diesem Zusammenhang eine der bemerkenswertesten Nuancen deutscher Debattenkultur, dass der Doyen strategischen Denkens, Henry Kissinger, hierzulande jederzeit eine zentrale Rolle bei staatlichen Anlässen oder high-level Vortragsveranstaltungen einzunehmen vermag, die Kategorien seines Denkens der letzten 60 Jahre aber weitestgehend unverstanden geblieben sind.3 Dabei ist er es 2018 (erneut) gewesen, der mit kaltem Blick für machtpolitische Ungleichgewichte aufgezeigt hat, was die Konsequenz wäre, würde sich Europa tatsächlich ohne Amerika neu definieren wollen: Angesichts Chinas und Russlands, die ihren politischen, ökonomischen und militärischen Machtanspruch auf Westeuropa unmittelbar und mit ungezügeltem Nachdruck geltend machen würden, verkäme Europa zum „appendage of Eurasia“4 (Kissinger, zit. n. Financial Times 2018). An diesem Punkt ist der Kontinent noch nicht; auch hat Kissinger keinen wesentlichen Einfluss auf Trump. Aber der ehemalige US-Außenminister hat damit bereits das Dunkel ausgeleuchtet, das sich aus unbedacht formulierten Lösungen und dem ihnen vorausgegangenen Mangel an Auseinandersetzung mit dem Thema Amerika unter Trump ergibt.5

      Dabei hätte Kissinger gleichsam erleichternd hinzufügen können, dass Amerika Europa aus vier Gründen strategisch braucht. Als weltweit operierende Seemacht müssen die USA den Atlantik als freien Bewegungsraum nutzen können, was den Zugang zu alliierten Gegenküsten erfordert. Weiterhin bedarf es zumal Ramstein als zentrale Machtprojektionsbasis für militärische Zwecke im Mittleren Osten und darüber hinaus. Auch hat Amerikas Wirtschaft circa 600 Mrd. US-$ an Investitionen in Europa angelegt, die kein US-Präsident vernachlässigen kann (und wird). Und zuletzt sieht auch Trump die USA als Teil der freien Welt; unabhängig von seinem unkonventionellen Verständnis von Demokratie und Rechtsstaat ist also auch er formal ein Demokrat, kein Diktator.

      Jetzt, da sich die Ära Merkel dem Ende zuneigt – und damit eine Neufassung des gängigen, realitätsverdrängenden Amerikabilds möglich wird – entsteht Denkraum für jene strategischen Notwendigkeiten, die bisher im „bleiernen“ (Kramp-Karrenbauer, zit. n. Münstermann 2018) Konsens Berlins ausgeblendet wurden: Nämlich die unausgesprochene Spaltung des Westens durch eine doppelte Reform von innen heraus zu überwinden. Dafür gilt es zum Ersten, die strategische Bewertung Chinas als zentralen Herausforderer Amerikas in dem Sinne zu verstehen, dass ein Krieg zwischen den beiden unweigerlich signifikanten Einfluss auf Amerikas Abschreckungsfähigkeit in Europa hat. Und dass Amerika deshalb bereits im Vorfeld, um China zu schwächen, auf Russland zugehen könnte. Die Antwort darauf ist eine strategische, deutsch-französische Nuklearabschreckung, die innerhalb der NATO als Break-out-Option bereitsteht, sollten Amerika und China tatsächlich Krieg in Ostasien führen.6 Diese Antwort ist Teil eines deutsch-französischen grand bargain7 in den wirtschafts- und sicherheitspolitischen Fragen Europas. Zum Zweiten gilt es, anders als Frau Merkel dies getan hat, die politische Kommunikation und entsprechend die innereuropäische Bewusstseinsbildung zentral auf das zu richten, was bei weiterer Nachlässigkeit existentiell bedroht ist: nämlich auf den Wert politischer Freiheit für liberale Gesellschaften (im Angesicht autoritärer Staaten wie Russland und China). Tatkräftig von Deutschland befördert könnte so eine transatlantische Vision entstehen, die diese zwei Elemente in eine Strategie einfügt, und damit sicherstellt, dass „nicht andere, mit anderen Werten Hand an unsere Lebenswelt, an unsere Freiheit legen“ (Gauck 2017, S. 12).

      1. Deutschlands strategischer Spielraum

      Der Unwille der USA, Europas Sicherheit langfristig und umfassend zu garantieren, ist unleugbar. Darüber sollten weder die gegenwärtige Stärkung der NATO durch Amerika in Osteuropa noch die Chimäre einer besseren Post-Trump-Ära hinwegtäuschen, die bis vor kurzem von den Generälen um ihn aufrechterhalten werden sollte. McMaster und Kelly mussten bereits zurücktreten; Mattis folgte ihnen Ende 2018. Kurzum, die in Berlin verbreitete Vermutung, US-Strategie ohne den außenpolitisch zunehmend enthemmten Präsidenten denken zu können oder zu glauben, sein Instinkt könne außenpolitisch wesentlich durch die Verfassung verändert werden, ist günstigstenfalls als optimistisch zu bezeichnen (Terhalle 2017). Eine Regierung unter der unterlegenen Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton hätte vielleicht weniger konfrontativ gesprochen, wäre aber in der Sache ähnlich hart gewesen.

      Daraus aber nun abzuleiten, Europa solle sich ohne Amerika als Westen neu definieren, weil einigen Beobachtern8 die notwendige, nüchterne Analyse Trump’scher Außenpolitik misslingt oder sie sich dieser Aufgabe nicht stellen wollen, ist kurzsichtig. Strategisch ist dies in jeder Hinsicht unratsam und fahrlässig, da kein westliches Europa dem gemeinsamen Druck Russlands und Chinas standhalten kann. Ihm bliebe nur die von Kissinger zugeschriebene Rolle eines Anhängsels Eurasiens, so sehr beide Großmächte dies gewiss als Win-win-Situation verkaufen würden.

      Ob es Deutschlands außenpolitischen Eliten gelingt, das dringend notwendige Verständnis für solches Denken zu entwickeln, ist gegenwärtig unklar. Bisher adoptieren nur wenige Beobachter in Berlin diesen komplementären Blick auf Russland und China und erkennen deshalb auch nur selten die doppelte Dimension jenes gewaltigen Drucks, der heute strategisch auf Europa und damit auch auf Deutschland wirkt. Anstatt also die Kräftedynamik zwischen diesen beiden Mächten komplementär zu betrachten und die Folgen zu antizipieren, werden Russland und China in Berlin hingegen noch immer getrennt betrachtet. Drei Beispiele:

      • Wie eine Durchsicht der betreffenden Reden von 2008 bis 2018 zeigt, betrachtet das Bundeskanzleramt Russland und China konsequent getrennt. In keiner Rede wird erkennbar, dass die Beziehung zwischen den beiden eine eigenständige, signifikante Bedeutung hat (Bundeskanzleramt 2008–2018).

      • Der Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, zuweilen als Vordenker der deutschen strategic community bezeichnet, betont in seinem jüngsten Buch (und Spiegel-Bestseller) Welt in Gefahr gleich vorweg, dass China „nur gestreift werden [konnte], um genügend Raum zu lassen für die Abhandlung der grundlegenderen Fragen von Krieg und Frieden, von internationaler Verantwortung und globaler Ordnungspolitik“ (2018, S. 11).9

      • Der Koalitionsvertrag von 2017 und zahlreiche Planungspapiere der Bundeswehr, die sich dem NATO-Erfordernis von 2% des jeweiligen Haushaltsbudgets widmen, fokussieren allein auf Russland (Deutscher Bundestag 2018).

      Alle drei Beispiele beschreiben eindringlich, wie unzulänglich Kissingers Aussagen hierzulande verstanden werden. Dabei ist es nicht so, dass heute in Berlin nicht (viel) von den Gefahren für die liberale Weltordnung geredet wird. Auch ist es ja nicht so, dass Deutschland sich nicht international engagierte. Vielmehr hat es mehr Verantwortung in den letzten Jahren übernommen, zuletzt in nicht weniger als 14 Auslandseinsätzen. Aber der Zweck dieser Verantwortung ist nicht strategisch formuliert worden, schon gar nicht mit Frankreich im Licht des Brexits. Eine Debatte im geschützten Rahmen der NATO ist auch nicht erfolgt.

      Wie gelingt diese Formulierung des strategischen Zweckes nun? Ein früherer Vorschlag ging dahin, deutsche Interessen zu definieren. Das ist vordergründig ein (semantischer) Schritt in die richtige Richtung. Deutsche Interessen definierend festzusetzen, bedeutet aber nicht, sie entsprechend auch um- und durchsetzen zu können.10 Angesichts der vorwaltenden Großmächte ist Deutschland erkennbar und substantiell zu schwach. Und deshalb nicht zuletzt Mitglied der NATO – der ehemalige Bundeskanzler Helmut Kohl nannte


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