Strategie als Beruf. Maximilian Terhalle
den zu Befreienden hervorheben, die durch Reform verschiedener Politiksektoren und -strukturen umgesetzt werden soll. Dabei werden fundamentale Probleme der politischen Neukonstituierung ausgeblendet, ob nun die neuen Regierungen Patronage-Netzwerke etablieren, um ihre politische Klientel zu befriedigen, oder ob hohe Summen von Aufbaugeldern Korruption befördern, die sich negativ für die Interventionsmacht auswirken (Porter 2016, S. 248–249).
Die letztliche Prioritätensetzung wird zweitens wesentlich dadurch erleichtert, dass sich die Strategielehre, gerade weil sie den von Thukydides geprägten, langfristig angelegten Blick für formativ hält, an seiner Trias orientieren kann. Durch die sensible Beobachtung geringerer Konflikte gelingt so die größere Kontextualisierung eines Großmachtantagonismus in einer internationalen Ordnung durch die Kategorien Status quo- und revisionistische Mächte. Drittens kann die Strategielehre die Grundannahmen, die die Weltbilder und kognitive Intuition von deutschen und führenden nicht europäischen Entscheidungsträgern prägen, systematisch aufbereiten und damit potentiell fehlerhafte Analogieschlüsse im Vorfeld sich abzeichnender Konfliktkontexte frühzeitig aufzeigen. Dies schafft u.U. (Denk-)Raum für offiziell politisch nicht gewollte und zunächst undenkbare Entscheidungsoptionen. Strategie hat wesentlich mit Entscheidungsfindung zu tun; so betont Freedman (2013, S. xiv): „reasoning behind them […] worthy of careful examination“.
Die Lehre von der Strategie schärft viertens das Verständnis für die Nichtlinearität politischer Entwicklungen (Jervis 2017, S. 234–260). Damit macht sie einerseits deutlich, dass sich aus einer bestimmten Strategie nicht zwingend eine Dynamik entwickelt, die das gewünschte Ziel, sofern erreicht, selbständig untermauert. Der Automatismus, der dieser Domino-Theorie zugrunde liegt, ist meist strategisches Wunschdenken (z.B. Irakkrieg 2003). Andererseits kann solches Denken auch dazu führen, dass politisch nicht gewollte Strategievorschläge mit Domino-Effekten in Verbindung gebracht werden, deren logische Konsequenz keineswegs ausgemacht ist (etwa die nukleare Bewaffnung Deutschlands als Proliferationsgrund für andere). Fünftens kann sie zeigen, wie trügerisch der szientistische Verlass auf die richtige Analyse von big data in strategischen Angelegenheiten ist (Tetlock und Gardener 2015). Die geglaubte Vorhersehbarkeit scheitert sowohl an der Nichtlinearität politischer Entwicklungen als auch an der intuitiven, durch Weltbilder und Analogien geformten Komplexitätsreduktion seitens der Entscheidungsträger. Sie scheitert ebenso an der Generierung von Friktionen im Konfliktverlauf, die nur adaptiv im Sinne des übergeordneten Ziels adressiert, aber nicht im Vorfeld geplant werden können. Strategielehre kann, sechstens, analytisch die politischen Widersprüche zwischen Großmächten wie China und Russland herausarbeiten und sollte sich dann nicht scheuen, Strategen Optionen für die praktische Manipulation dieser Gegensätze anzubieten, um zur Schwächung solcher Allianzen beizutragen.
8. Zusammenfassung
Die vorgelegte Analyse zielte darauf, den eklatanten Mangel an Strategielehre in Deutschland nachzuvollziehen. Und darauf, diesem folgenreichen Desideratum erstmalig durch einen Überblick über zentrale Aspekte des Gegenstands zu begegnen. Es wurde deshalb zunächst gezeigt, warum dieser Mangel in Deutschland grundsätzlich besteht. Sodann wurde darauf verwiesen, dass systemische und anthropologische Elemente wesentlich das antagonistische Bild der Strategielehre von Politik formen. Dem schloss sich die Darlegung an, weshalb Strategielehre Konflikte als Ausgangspunkt ihrer Beobachtungen nimmt und warum gleichzeitig die politische Natur von Konflikten häufig bereits vor dem Ausbruch von Gewalt erkenn- und adressierbar ist. Die klassischen, bis heute gültigen Einsichten Clausewitz’ wurden danach herangezogen, um die prinzipielle Notwendigkeit des Verständnisses für nicht lineare, ungleichzeitige und reziproke Wirkungsdynamiken in der Entwicklung von Konflikten zu veranschaulichen. Die moderne, im Wesentlichen im angelsächsischen Raum geformte Strategieforschung baut auf den vorgenannten Fundamenten auf und hat sich seit geraumer Zeit der systematischen Analyse strategischer Entscheidungsfindung zugewendet. Dieser Abschnitt der Analyse zeigte die kognitionspsychologisch hergeleiteten Entscheidungshilfen, die zentral bei der jeweils zu treffenden Auswahl von Entscheidungsoptionen sind. Daraus erschloss sich die erste, die neueste Forschung und praktische Aspekte des Themas kombinierende Definition des Begriffs Strategie. Der Überblick zum Thema Strategielehre eröffnete abschließend sechs Perspektiven, wie der (außer-)universitär zu etablierende Forschungsgegenstand die Praxis bundesdeutscher Strategiebildung unterstützen kann.
Eine wichtige Frage, die offengeblieben ist, lautet nun: Wie kann diese Unterstützung staatlicher Strategiebildung durch das Fach Strategielehre praktisch umgesetzt werden? Joachim Gauck (2014) hat hierzu einen ersten Vorschlag mit seiner Forderung nach geistigen Ressourcen gemacht, in den er auch die Neuschaffung von „Institutionen [und] Foren“ einschloss. Neben der Herausbildung von Lehrstühlen für Strategie sollte deshalb heute ein – aus den oben beschriebenen Gründen heraus – zwingend unabhängiges Internationales Strategie-Kolleg gegründet werden. Dieses könnte seiner für die Strategieforschung und -bildung in Deutschland zentralen Rolle am von allen Parteien mitgetragenen, exzellent ausgestatteten Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) nachgehen.
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