Strategie als Beruf. Maximilian Terhalle
besser einschätzen zu können. Allerdings gibt es zwei Grenzen hierbei. Zum einen darf die langjährige, intime Kenntnis einer anderen Sicht auf strategische Interessen nicht dazu führen, diese Perzeption als authentisch zu betrachten, weil sie die eigene Wahrnehmung infrage stellt. Die Gefahr eines solchen Prozess des „going native“ wird weiterhin dadurch erhöht, dass gezielte Täuschungen und Lügen wesentlich jene Schwierigkeiten befördern, die akkurates strategisches Perzeptionsvermögen ohnehin behindern.
9 Gaddis 2018, Kap. 1; Kahneman 2011, 219. – Auch der bemerkenswerte „read to lead“-Ansatz des französischen Präsidenten, der sich eine Stunde pro Tag für die lesende Reflektion reserviert, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass allgegenwärtiger Zeitdruck vertieftes Studium und Reflektieren in Fragen von Strategie gleichsam unmöglich macht.
10 Das heißt nicht, dass ein Land nicht mehrere außenpolitische Identitäten hat, inklusive einer pazifistischen. Es zeigt vielmehr, dass die glaubwürdige Teilnahme am machtpolitischen Wettkampf internationaler Politik und dessen tatsächliche Beeinflussung ohne eine strategische Kultur nicht realistisch ist.
11 Kissinger, Clausewitz und den Wiener Kongress denkend, beschreibt die notwendigerweise unauflösliche Verbindung zwischen militärischem Planen, Psychologie und politisch-ökonomischer Strategie so (1957, 422): „A separation of strategy and policy can only be achieved to the detriment of both. It causes military power to become identified with the most absolute applications of power and it tempts diplomacy into an over-concern with finesse. Since the difficult problems of national policy are in the area where political, economic, psychological and military factors overlap we should give up the fiction that there is such thing as ‚purely‘ military advice.“
12 S. hierzu das Kapitel „Cyber, AI, and Strategy-making“.
13 Siehe Hurrell (2007, Kap. 2) für den sog. pluralistischen Rahmen weltpolitischer und strategischer Analyse (vs. den solidaristischen).
14 Die nächsten drei Absätze sind einem Artikel dieses Autors entlehnt (2019).
15 Während der durch das Weißbuch der Bundeswehr von 2006 ausgelösten Debatte über ‚deutsche Interessen‘ machte der Friedensforscher Klaus Naumann (2008, 28–30) richtigerweise darauf aufmerksam. Eine konzeptionelle Begründung lieferte er nicht.
16 Helmut Kohl.
17 Klassisch dazu der Melier-Dialog in Thukydides’ Geschichte des Peloponnesischen Kriegs (5. Buch, LXXXIV – CXIV, bes. LXXXIX, CV).
18 S. hierzu auch die wichtigen Anmerkungen bei von Alten (1994, 135) und Kissinger (1965, 160–1).
19 Gernot Erlers “Weltordnung ohne den Westen“ (2018) übersieht trotz des vielversprechenden Untertitels „Europa zwischen Russland, China und Amerika“ genau diese Begrenzung europäischen Handlungsspielraums.
20 Die Gefahren wie die Möglichkeiten, denen AI-unterstützte Strategiebildung im Cyberraum entgegentritt/begegnet (u.a. Greenberg 2019; Nye 2016; Libicki 2007), werden ausführlich im Kapitel „Cyber, AI, and Strategy-making“ behandelt.
21 Eine abgewogene Kritik findet sich bei Hurrell (2015).
22 Und die den Kern einer ausgiebigen Privatunterhaltung des Autors mit Henry Kissinger 2019 bildeten.
23 An dieser Stelle wird der gewichtigste Unterschied von Strategie als Beruf zu Webers Politik als Beruf besonders deutlich. Webers bekanntes Diktum der Politik als „starkes langsames Bohren von harten Brettern“ (1993, 67), das er im Folgesatz eher zurückhaltend einschränkt, wohnt eine status-quo Bias inne. Obschon Stabilität ein grundlegendes, adaptiv zu erreichendes Ziel von Strategie darstellt, ist das intuitive und wache Ergreifen von Gelegenheiten zum strategischen Handeln nicht mit einem grundsätzlichen Verständnis von Politik als ‚Bohren harter Bretter‘ zu vereinbaren.
24 Zu Bismarck: Gall 1980, 23, 127–8, 729.
25 Kissinger nannte dies ‚the problem of conjecture‘.
26 Neben anderen sind hier Isaiah Berlins Klassiker „The Sense of Reality“ und „Political Judgment“ (1996, 1–53) einschlägig.
27 Bemerkenswerterweise kritisierte Friedrich Merz genau dies nicht anhand des Sicherheitsberaters der gegenwärtigen Bundeskanzlerin, sondern an ihr selbst. Wenn auch allgemeiner auf Politik bezogen, trifft seine Aussage auf Strategie zu: „Frau Merkel hat gesagt, Politik bestehe aus dem, was möglich ist und da widerspreche ich ernsthaft. Man muss in der Politik etwas möglich machen und etwas möglich machen wollen.“ Und fügte hinzu, nur dies stelle Führung in der Politik dar (zit. in FAZ 2019a).
28 Michael Doyle, neben seiner Tätigkeit als Professor bei Columbia University ausgewiesener Langzeitberater der Vereinten Nationen, brachte dies dem Autor gegenüber 2008 als Ansporn so auf den Punkt: „Ich habe das selten geschafft. Aber wenn Du richtig gut sein willst, musst Du in der Lage sein, Dein Wissen nicht anlassbezogen auszurichten, sondern anlassbezogen Wissen abrufen und anwenden zu können. Dazu gehört insbesondere, Dein Wissen mit 600 Wörtern auf den Punkt zu bringen.“
Um die mitunter nicht-existente Beziehung zwischen Politik und diesbezüglichen Wissenschaftsdisziplinen wissend, ermunterte der Autor dieses Buches Auswahl-, Tenure-track- und Stiftungskommissionen, erfolgreiche Beispiele der Einflussnahme auf praktische Strategiebildung als gleichgewichtige Kernkriterien bei der Auswahl/Beförderung einzuführen (Terhalle 2016; ähnlich Walt 2012, 41).
29 Ho rekurriert auf Hassem Talebs ‚black swan‘ und spinnt den Faden von dort aus ideenreich weiter: „The black elephant is the evil spawn of our cognitive biases. It is a cross between a black swan and the proverbial elephant in the room. The black elephant is a problem that is actually visible to everyone, but no one wants to deal with it, and so they pretend it is not there. When it blows up as a problem, we all feign surprise and shock, behaving as if it were a black swan“ (2017).
I.
Grundbegriffe strategischen
Denkens
2
Konzeptionen – Strategie
und Strategielehre
Einleitung
Die Sprachlosigkeit deutscher Politiker1 und Intellektueller war bemerkenswert, als