Strategie als Beruf. Maximilian Terhalle
daraus resultierenden Handlungsmöglichkeiten werden kategorisch durch das Spannungsfeld zwischen den Großmächten Amerika, China und Russland bemessen. Das antagonistische Umfeld wird somit durch die jeweils vorherrschenden Großmächte und die interaktive Dynamik zwischen diesen bestimmt. Dabei ist für Deutschland entscheidend, welche Analyse der internationalen Sicherheitspolitik die traditionelle Schutzmacht Europas zum Erhalt ihrer Vormachtstellung, also gegenüber etwaigen Herausforderern, vornimmt. Nur aus dem so angelegten Verständnis von Amerikas militärischer Glaubwürdigkeit und seiner Kapazitätsgrenzen lässt sich erkennen, wie es tatsächlich um den militärischen Schutz deutscher und europäischer Souveränität bestellt ist. Und nur aus Amerikas Perzeption der internationalen Sicherheitspolitik lässt sich dann erkennen, welche Rolle Amerika durch die NATO zum Schutz Deutschlands und Europas einnehmen kann und will. Mit anderen Worten: Erst auf dieser Basis lässt sich so genauer bestimmen, welche Interessen vital sind, was dies für die deutschen Vorschläge für die Ausgestaltung des militärischen Schutzes Europas bedeuten muss und was somit „mehr Verantwortung“ (Gauck) bei ihrer Implementierung eigentlich impliziert. Dies impliziert, was die Europäer selbst aktiv tun müssen, um nicht Zuschauer eines mitunter rücksichtslosen Wettkampfs zu werden. An dieser Stelle müssen heute die großen strategischen Fragen europäischer Positionierung beginnen.
Der realistisch erst durch diese Kontextualisierung zu erkennende, strategische Zweck deutscher und europäischer Strategie wird nun deutlich: Dieser liegt in der Gewährleistung des Schutzes der vitalen Grundlagen der Sicherheit, des Wohlstands und der „Lebenswelt“ Europas (Gauck 2014).18 Was zunächst naheliegend erscheint, hat drei wichtige Konsequenzen. Da Strategie, erstens, den Kern von Interessen als vital herleitet, können andere Interessen, die nicht die Grundlagen seiner Existenz betreffen, nicht Prioritäten abbilden. Die Handlungsnotwendigkeiten, die sich zweitens aus dieser Vermessung des Spielraums ableiten, sind der Kern deutscher und europäischer Strategieplanung.19 Erst am Ende dieser strategischen Bestimmung des politischen Zwecks deutscher und europäischer Macht steht die Frage nach der Beschaffenheit militärischer Kapazitäten.
In strategischen Ansätzen sind Spitzenpolitiker die wesentlichen Akteure bei der Ausgestaltung sicherheitspolitischer Entwicklungen in internationalen Ordnungen. Die anthropologische Sicht der Strategic Studies komplementiert deshalb das antagonistische Fundament des Faches. Kurzgefasst hat Hans Morgenthau dies als den „animus dominandi“ bezeichnet, ob reflektiert im Streit um mehr Macht oder um den befürchteten Verlust von Macht (1946, 192–6; Weber 1919, 8). Der antagonistisch ausgefochtene Wille zur Macht ist damit eine Grundkonstante strategischen politischen Handelns, insbesondere außerhalb von Sicherheitsgemeinschaften wie der EU und der NATO. Die menschliche Natur kann dabei durchaus kooperationsfähig sein, zumal dann, wenn historische Erfahrungsrahmen, gleichviel wie blutig in der Vergangenheit erkämpft, eine Zahl von Völkern politisch, kulturell und wirtschaftlich besonders eng und deshalb friedlich verbinden. Kooperation über diese Verbindungen hinaus ist möglich und realpolitisch notwendig, aber aus der genannten systemischen Logik stets anfällig und aus der anthropologischen Logik immer durch Machtstreben limitiert. Das ist es im Kern, was Strategen meinen, wenn sie von Vakuen sprechen, die in der internationalen Politik nie längerfristig bestehen bleibt.
Die Interessenlage potenzieller strategischer Antagonisten wird weiter kompliziert durch die historisch ungleichzeitige, variierende Zu- und Abnahme der materiellen Stärke zentraler Mächte sowie Veränderungen ihrer ideologischen Ausrichtung. Gerade weil benachteiligte Großmächte, in unterschiedlichem Maße, ihre Position, ihr Sicherheitsbedürfnis zu verbessern suchen und andere dies umgekehrt aus Furcht vor Machtverlust verschiedentlich konterkarieren und/oder ihre bessere Sicherheitslage unabhängig davon weiter ausbauen wollen, sehen die Strategic Studies die menschliche Natur als permanent anfällig für die Versuchungen der Macht an.
Und drittens: Das Konzept des Sicherheitsdilemmas steht auf den Fundamenten dieser anthropologischen und systemischen Grundannahmen (Booth/Wheeler 2018; Jervis 2017, 1978; Butterfield 1951; Herz 1950). Strategen gilt dieses Dilemma internationaler Politik als unauflöslich, dem Fach Strategic Studies liegt es als zentrales Konzept zugrunde.
Indem das Sicherheitsdilemma die inhärente Unsicherheit, die über die Perzeption der strategischen Intentionen anderer Staaten psychologisch permanent (und unauflöslich) besteht, in seinen Mittelpunkt stellt, hebt es das zentrale Dilemma der Sicherheitspolitik heraus: Neue, taktische und strategische Waffensysteme werden von Staaten als defensiv ausgerichtet bezeichnet, hingegen von nicht-verbündeten, anderen Staaten als offensiv perzipiert. Somit wird die Unterscheidung defensiv-offensiv eine psychologische Perzeptionsfrage (Jervis 2017, 1978; Yarhi-Milo 2014). Und selbst dort, wo militärische Spezialisten die Unterscheidung technologisch ausweisen können, können sie die mögliche Intention nie ausschließen, dass defensive Waffensysteme ohne grosses Aufhebens in Kombination mit offensiven Systemen eingesetzt werden können. Defensive Schutzschilde, konventioneller wie nuklearer Art, sind deshalb für solche Kritik immer anfällig – und enthüllen gleichzeitig die zynische Doppelbödigkeit des nicht-verbündeten Kritikers.
Unsicherheit über zukünftige gegnerische Intentionen in einer parteiisch bevorteilenden (und deshalb immer umstrittenen) Ordnung ist damit der entscheidende Grund, warum das Erkennen der Intentionen von Konfliktgegnern inhärent schwierig ist. Im Umkehrschluss lässt sich damit eine weitere, zentrale Einsicht der Strategic Studies formulieren. Gerade weil das Sicherheitsdilemma unauflöslich in die internationale Politik eingewoben ist, entscheidet das ökonomisch befreundete Machtgewicht sowie die politisch so geschickte wie robuste Nutzung glaubwürdiger militärischer Abschreckungsmacht, nicht der sporadische Einsatz militärischer Gewalt, darüber, welches strategische Standing ein Staat in den Augen nicht-verbündeter Länder in der Welt und, im besonderen, in den Augen der Mitglieder eines Bündnisses hat – und haben will. Die Notwendigkeit zur Strategiebildung ist damit wegen des Sicherheitsdilemmas unerlässlich.20
Ausgehend von diesen Grundannahmen der Strategic Studies zur Beschaffenheit der Weltpolitik, legt der Text nun in verkürzter Form drei Verständnisse von Strategie dar, die von diesen Annahmen ausgehen und zusammengenommen den Zugang zur Analyse von Strategie und zum Machen von Strategie ermöglichen.
Drei Verständnisse von Strategie für Entscheider
Henry Kissingers Verständnis von Strategie als Weltordnungspolitik beruht auf der Annahme, dass Strategie von einer klaren Konzeption der Zukunft abhängig ist. Carl von Clausewitz’ Denkmodell besteht aus explizit non-linearen Strategiedynamiken. Und Lawrence Freedman legt dar, dass Strategien als Entscheidungsprozesse durch kognitionspychologische Logikmodelle operieren. – Zusammen mit den drei vorgenannten Grundannahmen ermöglichen diese Ansätze wesentliche Vorteile bei der Entscheidungsfindung, gerade weil sie Regierungschefs/-mitgliedern und ihren engsten Beratern in einer ansonsten undurchdringlich komplexen Weltpolitik analytisch festen Überblick gewähren. Der so gewonnene, antizipierende Blick erlaubt es dem Entscheider, mit seiner Strategie Entwicklungen aktiv, nicht reaktiv, zu beeinflussen. Mit anderen Worten: Die drei Ansätze geben Entscheider den roten Faden an die Hand, der ihnen – ohne diese konzeptionellen Hilfsmittel – mit grosser Wahrscheinlichkeit aus der Hand genommen wird.
Henry Kissinger: Weltordnungspolitik als Strategie, Strategie als Konzeption der Zukunft
Weltordnungen und die Einflusssphären der Großmächte werden sicherheitspolitisch durch das Ende von Kriegen bestimmt (zuletzt: Kalter Krieg). Weltordnungen bevorteilen deshalb, wie angedeutet, zumeist eine Gruppe (die Sieger), womit andere, schwächere Akteursgruppen (die Verlierer) inhärent benachteiligt werden. Ordnungen sind somit für gewöhnlich einige Zeit lang stabil. Weil sie aber keine abstrakten Strukturen sind, sondern von, naturgemäß nie objektiven, Strategen im Sinne einer zu einem bestimmten Zeitpunkt stärksten Gruppe erdacht wurden und in deren Machtverständnis adaptiv konserviert werden, bevorzugen Ordnungen immer einige und gereichen anderen, unterschiedlich stark, zum Nachteil (Kissinger 2014; Terhalle 2015).21 Das heißt nicht, dass die Sozialisation eines ehemaligen Gegners in das eigene