Strategie als Beruf. Maximilian Terhalle
realpolitischer oder politikfeldbezogener Kooperation verschiedentlicher Intensität keineswegs a priori aus.
Das Sicherheitsdilemma aber, das der scheinbar stabile Status quo beinhaltet, bleibt der Weltpolitik immanent. Ohne akzeptierte Einflusssphären, die durch realpolitische Diplomatie unter den Großmächten auf Kosten kleinerer Staaten (nach-)verhandelt werden können, kann sich der geopolitische Revisionismus der unterlegenen Gruppe radikalisieren, auch wenn dies abhängig ist vom Grad der Dominanz der gegebenen Machtverhältnisse. Wie unterschiedliche Logiken der Radikalisierung von Revisionismus funktionieren, kann man im übrigen zu Genüge an der deutschen Geschichte studieren und dann – reflektiert – auf die Gegenwart (RUS, CHI) anwenden. In welchem Kontext und in welchem Mass sind Abschreckung, Konfrontation, Rapprochment oder Appeasement angebracht, in welchem bewirkt der Einsatz des jeweiligen Instruments das Gegenteil; wie bestimmt man strategisch den Grad von Abschreckung, Konfrontation, Rapprochments oder Appeasement? Fragen, die heute meist unausgesprochen, selten ausgesprochen (Macron 2019, 2020) der Debatte über die Zukunft der NATO zugrundeliegen.22
Für Kissinger ist deshalb alles strategisches Planen von der Formulierung einer Konzeption der Zukunft der internationalen Politik abhängig. Die Notwendigkeit hierzu begründet er damit, dass Strategie – wiewohl informiert von der Historie – immer an der Schwelle von der Gegenwart in eine ungewisse Zukunft hinein operieren muss. Die strategische Konzeption der Ordnung hält dabei Grundpfeiler und Kernziele der Zukunft fest, für die die Strategie anpassbare Optionen zu ihrer Erreichung anbieten muss. Sie tut das, indem das langfristige Ziel einer bestimmten Ordnung und deren Konturen strategisch im kurz- und langfristigen außenpolitischen Handeln als roter Faden reflektiert sein muss.
Kissinger sieht hierfür die Trias aus Instinkt, Urteilsvermögen und das Handeln im richtigen Augenblick als zentral an. Der feine Instinkt für erste Konturen sich undeutlich anbahnender, neuer Gelegenheiten zum weltpolitischen Manövrieren ist von enormer Bedeutung, da er dem Strategen anzeigt, wie nützlich die jeweilige Gelegenheit zur Erreichung der Zukunftskonzeption ist. Nur hierin liegt für ihn die Kunst des Möglichen. Nur so können Strategen, die qua natura nie mit vollständiger Information über und Kenntnis von der Zukunft ausgestattet sind, Gelegenheiten zum Handeln erkennen. Weit bevor andere die neuen Konturen begreifen, leitet der Instinkt so das Urteilsvermögen des Strategen an und eröffnet ihm Wahlmöglichkeiten (Kissinger 2019, 4–5; 1957, 324–30).23
Strategie hingegen, die „realistisches“ Zeitverständnis mit ‚unter den gegebenen Bedingungen möglich‘ gleichsetzt und dies fälschlicherweise als Bismarcks ‚Kunst des Möglichen‘ simplifiziert, missversteht gerade die Natur zukunftsorientierter Strategie.24 Deshalb insistiert Kissinger, dass Instinkt und Urteilsvermögen leitend sein müssen, da der Zeitpunkt, zu dem sich die Ungewissheit über die unklaren Konturen aufgelöst hat, auch der Zeitpunkt ist, an dem der Stratege die Dinge nur noch selten wesentlich in seinem Sinn beeinflussen kann. Leiten hingegen Instinkt und Urteilsvermögen den handelnden Strategen, hat er den notwendigen Spielraum, um den besten Zeitpunkt seines strategischen Handelns selbst zu bestimmen. Um dieser (im Kern bis heute unveränderten) Problematik zu begegnen, bedarf es
„[the] ability to project beyond the known. And when one is in the realm of the new, then one reaches the dilemma that there is really very little to guide the policymaker except what convictions he brings to it. … Every statesman must choose at some point between whether he wishes certainty or whether he wishes to rely on his assessment of the situation. … If one wants demonstrable proof one in a sense becomes prisoner of events“ (Kissinger zit. in Ferguson 2015).25
Ein aktiver nationaler Sicherheitsberater muss diese strategischen Qualitäten besitzen, um den Entscheidungsträger trotz nie vollständiger, geschweige denn gerichtsfester Informationslage mit passenden Optionen zum Führen durch Handeln zu bewegen. Es ist deshalb naheliegend, dass Kissinger dem aktiven, resoluten Strategen und Tatmenschen den Vorzug gibt, weil er nur durch ihn die Möglichkeit gegeben sieht, den jeweils instinktiv erkannten Spielraum erfolgreich zu nutzen: „Both sides of the Atlantic would do well to keep in mind that there are two kinds of realists: those [experts] who use facts and those [strategists] who create them” (Kissinger 1965, 249).26 Nationale Sicherheitsberater, die das realistisch Mögliche allein am gegenwärtig Erkennbaren ausrichten und dementsprechend grundsätzlich zurückhaltendes Handeln empfehlen, sieht Kissinger konsequenterweise nicht als geeignet an.27
Der Wille zum Handeln, der solcher strategischen Initiativkraft zugrunde liegt, muss dabei alle einem Strategen zur Verfügungen stehenden, sich potenziell bietenden und zuweilen manipulierbaren Mittel nutzen. Josep Borrell, der EU-Außenbeauftragte, implizierte dies Anfang 2020, als er von einer neuen weltpolitischen Realität sprach, bestehend aus „issue linkage“ und „raw power politics“, „[where] we see economic tools, data streams, technologies, and trade policies used for strategic ends.“ Dabei spiegelt der bei der praktischen Umsetzung des strategischen Urteilsvermögens gewählte Stil die an der Zukunftskonzeption orientierte, scharfsichtige Entschlossenheit des Strategen wider. Zu den Formen dieses gegenüber nicht-verbündeten Staaten angewandten Stils gehören nicht nur aber auch Chuzpe, Finesse sowie „Wachsamkeit, Kampfbereitschaft und Kaltschnäuzigkeit“ (Schwarz 1985, 165; s.a. Welch 2005, 8–9).
Carl von Clausewitz: Denkmodell Strategiedynamiken
Clausewitzens in der Forschung heute unbestritten am meisten anerkannte Leistung besteht darin, nicht-lineare und reziproke Wirkungsdynamiken in Konfliktsituationen erkannt zu haben. Seine „wunderliche Trinität“ des Krieges aus Gewalt, Zufall und politischem Zweck legte dabei den Grundstein seiner Theorie von und für Strategie. Er hinterfragte einfache Ziel-Wirkung-Annahmen, die sich auf seinerzeitige (und auch heute anzutreffende) rationalistische Kalkulationen der vorhandenen Mittel in Bezug zur Erreichung von Zwecken beriefen. Er formulierte dadurch einerseits ein Verständnis für die Akzeptanz von Zufällen und für die reziproke Dynamik diplomatisch-militärischer Konfliktentwicklungen sowie andererseits die begrenzte Steuerungsmöglichkeit beider durch eine exakte politische Zielbestimmung im Sinne eines Plans. Friktionen werden vielmehr qua natura von eben dieser Trinität generiert und erschweren in erheblichem Maße die kognitive Greifbarkeit und analytische Beantwortung ihrer diffusen und komplexen Dynamik untereinander durch den Strategen (Freedman 2013, Kap. 7; Herberg-Rothe 2017, Kap. 7).
Clausewitz war sich somit des unweigerlichen Problems strategischer Unvorhersehbarkeit in Konflikten bewusst, verneinte aber stringent, dass dies zu einer tabula rasa führen müsste. Er insistierte vielmehr, dass (Donald Rumsfelds) unkown unknowns immer nur ein Teil der Planung waren. Auch Gegner (und Feinde) waren – und sind – gleichermaßen der Logik jener Friktionen ausgesetzt, die der Trinität von Konfliktdynamiken innewohnten. Er sah deshalb Erschütterungen der Zielplanung als gegeben an und inkorporierte Planungen für Eventualitäten in sein Denken. Trotz dieser manifesten Ungewissheit, so wies er Strategen an, waren übergeordnete Ziele mit Beharrlichkeit zu verfolgen, indem Einschränkungen des Handelns durch adaptives Verhalten aufzulösen war. Ein deutscher General (Moltke, der Ältere) sollte dies später so fassen: „Die Strategie ist die Fortbildung des ursprünglich leitenden Gedankens entsprechend den stets sich ändernden Verhältnissen“ (zit. in Herberg-Rothe 2017, 180). Kissinger würde anstatt des ‚leitenden Gedankens‘ seine Konzeption der Zukunft setzen.
Lawrence Freedman: Strategie als Entscheidungsprozesse der Kognitionspsychologie
Die moderne Strategielehre setzt hier an und analysiert Entscheidungsfindungen in weitgehend, aber nicht vollständig unwägbaren Kontexten. Sie erkennt die für Entscheider unausweichliche Schwierigkeit an, im Jetzt dieser Unsicherheit Strategien für das unklare Morgen liefern und adaptiv implementieren zu müssen. Spannungen zwischen kurz- und langfristiger Planung für komplexe Kontexte sind dabei dem Blick auf die kognitiven Anforderungen an Strategen