Strategie als Beruf. Maximilian Terhalle
die freiheitlich-liberale Weltordnung schützen.2
Und dennoch: All diese Entwicklungen treffen auf ein Deutschland, das sich seiner Ansicht nach gut in Europa eingerichtet hat. Seine Perzeption der Weltpolitik ist weitestgehend unbedarft, ohne tiefergehendes Problembewusstsein strategischer Umbrüche. Die Gründe dafür sind, verkürzt gesagt, der Zweite Weltkrieg, die daraus abgeleitete Kultur der Zurückhaltung auch nach der Einheit sowie die Gewöhnung an umfassenden Wohlstand und den militärischen Schutzschirm der USA. Deshalb ist seit dem Ruf des ehemaligen Bundespräsidenten Gauck von 2014 nach „mehr Verantwortung“ Deutschlands aus dem häufig bemühten „Münchner Konsens“ nie ein Berliner Konsens geworden.
Was Deutschland fehlt, im Ausland von vielen starken Verbündeten bemängelt (und von anderen insgeheim gutgeheißen), ist deshalb eine strategische Kultur. Häufig deutscherseits als Sonderweg bemüht, steht das Land sehr einsam in der Welt mit diesem Mangel. Mit anderen Worten: Außerhalb Deutschlands leistet sich kein Land ähnlicher Größe oder größer den Luxus, keine strategische Kultur zu haben. Der Grund dafür ist simpel. Internationale Akteure wissen, dass die Welt substanziell anders beschaffen ist, als Deutschland sich dies zum – großen – Teil, nicht gänzlich, bis heute selber vorspiegelt.3 Kognitionspsychologen nennen dies den schwarzen Elefanten: „The black elephant is the evil spawn of our cognitive biases. It is a cross between a black swan and the proverbial elephant in the room. The black elephant is a problem that is actually visible to everyone, but no one wants to deal with it, and so they pretend it is not there“ (Ho 2017). Der deutsche Michel gleicht in diesen Zeiten einem schlafwandelnden schwarzen Elefanten.
Die bisher in Deutschland fehlende strategische Kultur ist deshalb ein Hinweis darauf, dass Staaten einer conditio sine qua non unterliegen, ohne die sie sich auf internationaler Ebene politisch, wirtschaftlich und in ihrer kulturellen Eigenart nicht erfolgreich behaupten können: der Fähigkeit, strategisch zu denken und entsprechend handeln zu wollen, um ihre Sicherheit zu gewährleisten. Solange in einer Welt unterschiedlicher Machtgewichte und Wertesysteme Staaten die Möglichkeit besitzen, mit Mitteln aller Art Bedingungen zu schaffen, um andere Staaten anzugreifen oder diese mindestens so erpressbar zu machen, dass sie zum Handeln wider ihren Willen gezwungen werden können, ist die Notwendigkeit strategischen Denkens und Handelns von überragender Bedeutung. Dies schließt insbesondere Zeiten des Umbruchs von Weltordnungen, des machtpolitischen Umbruchs lange bestimmender Regelsysteme ein. „[Classical strategists have] always insisted that a concern with the dark side of the international system could never provide a total approach to international politics, but it was necessary to take care of it in order that the lighter side could glow“ (Freedman 1992, 282).
Ein konzeptioneller Kompass für Strategen
Strategen, Generalisten, Experten
Nach diesen strategischen Beobachtungen zur Gegenwart legt der Text nach einigen Vorbemerkungen drei Grundannahmen zur Natur der Weltpolitik und drei Verständnisse von Strategie dar, wie sie die „Strategic Studies“ bieten.4 Diese Annahmen und Verständnisse geben Entscheidern und ihren Spitzenberatern einen konzeptionellen Kompass bei der Erkennung, Einordnung und Priorisierung von Interessen und politischen Entwicklungen als vital oder nicht-vital an die Hand. Damit versetzen sie die wesentlichen Akteure in die Lage, aktiv und strategisch, nicht reaktiv und situationsgetrieben, in die Zukunft der internationalen Politik einzugreifen und sie antizipierend zu formen. Trotz des allgegenwärtigen Zeitdrucks, des Tagesgeschäfts, unerwarteter Krisen und des digitalen 24/7-Rythmus ermöglicht es dieser Kompass dem Strategen, den Blick stets auf das big picture aufrecht- und durchzuhalten, den roten Faden der oben genannten Logiken strategischer Zusammenhänge zu verstehen und sich deshalb auf die zentralen Implikationen und Gelegenheiten zum Handeln konzentrieren zu können.5
Dadurch unterscheidet sich der Stratege nicht zuletzt vom Generalisten. Letzter gilt aufgrund der ihm häufig zugesprochenen, schnellen Auffassungs- und Einarbeitungsgabe als prädestiniert für die Behandlung strategischer Fragen, gerade weil er sich in kurzem Zeitraum Expertise aneignen könne. Was dabei genau wie aufgefasst und worin dieses was eingearbeitet wird, wird dabei jedoch allein mit radikaler Präferenz für ‚das‘ empirisch Praktische und häufig das politisch Gewollte bestimmt. Die Rechtfertigung dieses Ansatzes gründet dann zumeist auf der Komplexität des internationalen Geschehens an sich und der – unbezweifelbaren – Ungewissheit über den Fortgang der Zukunft. Das Komplexitätsargument wird bestärkt durch die stärker als schwächer werdende Tendenz, dass Generalisten immer mehr über immer weniger wissen und somit Gefahr laufen (und dieser zumeist unterliegen), den Wald vor Bäumen nicht zu sehen.6 Entsprechend werden Zeitentwicklungen mit viel Detailkenntnis administrativ in individuelle Problembereiche segmentiert, das technokratische Lösen von Problemen genuin als Politik (miss-)verstanden und somit vermeintlich ein höhere Effizienz des Verwaltungshandelns erreicht (Epstein 2019, 286; Kissinger 2019, 131). Im Ergebnis wird damit ein kleinteiliges muddling-through ohne Blick für das Ganze zum bürokratisch abgesicherten modus operandi (Lindblom 1959; Gadamer 1989, 136–57).7
Übersehen wird deshalb, dass die allenthalben vorwaltende (Hyper-)Spezialisierung der Experten-Generalisten keine, strategischen Überblick gewährende Antworten auf die Komplexität internationaler Politik bieten kann. Deshalb muss sich dem eine strategische, machtpolitische Lesart internationaler Politik entgegenstellen. Diese beruht auf den im nächsten Abschnitt beschriebenen Vorbedingungen.
Ein jüngstes empirisches Beispiel mag diese Problematik zunächst veranschaulichen. Im Sinne einer Grundannahme versteht die Bundeskanzlerin praktische Politik als das „Lösen von Problemen“. Dieses Verständnis mag erklären, warum die Kanzlerin u.a. Nordstream 2 und Huawei als unpolitische, wirtschaftliche Probleme begreift. Dies spiegelt sich wider in ihrer häufig genutzten Begrifflichkeit, Machtpolitik sei ein „Relikt des 19. Jahrhunderts.“ Ohne die den zentralen Machttrieb heutiger Großmächte konzeptionell ausklammernde und damit diesen ungut unterschätzende Bundeskanzlerin beim Namen zu nennen, erinnerte Henry Kissinger mahnend an die eklatante Schwäche dieses Ansatzes: „the traditional thinking [in foreign-policy making] has been that issues could be segmented into the resolution of individual problems – in fact that the solution of problems was the issue“ (2019: 131). Dies erklärt im Umkehrschluss aber auch, warum die kühlen und zynischen Machtstrategien Chinas und Russlands von der Kanzlerin so wenig durchschaut worden sind wie die Notwendigkeit unerkannt geblieben ist, für Europa und Deutschland machtbasierte Strategien zu entwickeln.8
Philip Tetlocks meisterhafte Studie zur Antizipationsqualität von Experten hat in diesem Zusammenhang die Notwendigkeit konzeptionellen Denkens in seinen Befragungen treffend so herausgearbeitet (2005, 20): „Who experts were – professional background, status, and so on – made scarcely an iota of difference … Nor did what experts thought – whether they were liberals or conservatives, realists or institutionalists, optimists or pessimists … But how experts thought – their style of reasoning – did matter.“9
Wiewohl ein unwahrscheinlicher Stratege, hat Hugo von Hofmannsthal die Mahnung Tetlocks mit verblüffender Leichtigkeit 1894 bereits vorweggenommen. Hofmannsthals kluges Diktum, „Was hilft es, viel gesehen zu haben?“, impliziert dabei gerade die Notwendigkeit zu strategisch geschulter Reflektion, die der in der Sicherheitspolitik weit verbreiteten, für selbsterklärend-pragmatisch gehaltenen Herangehensweise gegenübergestellt werden sollte (zit. in Gadamer 1989, 8).
In einem Wort: Inspiriert von Max Webers Klassiker von 1919, Politik als Beruf, zielt das vorliegende Buch darauf, Grundlagen zu legen, um Strategie als Beruf zu etablieren. Die Konzentration des Ansatzes liegt dabei auf zukünftigen politischen Entscheidern und ihren engsten Beratern. Die vorgelegten Analysen