Strategie als Beruf. Maximilian Terhalle
Großmut einfach freundlich weggelächelt. Ich danke Euch dafür zutiefst. – Trotz allem, seid gewiss, mein innerster Antrieb ist es immer (gewesen), dass Ihr sicher in einer freien Welt leben könnt, jetzt und in (Eurer) Zukunft. Ob das gelingt, liegt an deutschen, europäischen und amerikanischen Strategen. Die großen Anderen, China und Russland, werden sich nicht zur Verteidigung jener Welt der Freiheit aufschwingen, die uns das höchste Gut ist.
Auf der anderen Seite des Teichs danke ich meinen Schwiegereltern für ihre unnachahmlich großzügige Gastfreundschaft, ob an der Ostküste oder an anderen Orten der Welt. Meinen lieben Eltern danke ich für ihr liebevolles Verständnis dafür, dass ich über zehn Jahre in die Ferne gezogen bin und manches Mal zu lange und zu weit weg war von Euch. Ihr habt mir jeden Tag vorgelebt, was gute Eltern wirklich ausmacht. Und meiner lieben Schwester danke ich von Herzen für ihre in den vielen Jahren nie nachlassende, stille Sorge um ihren Bruder.
London/Winchester/Shrivenham Maximilian Terhalle
Einleitung
1
Eine Grundlegung strategischen
Denkens in Deutschland
Strategie im machtpolitischen Umbruch der Weltordnung
30 Jahre deutsche Einheit, über 70 Jahre NATO – Deutschlands Freiheit und Wohlstand sind sicher. Gute Auskommen sind überdies sozial(staatlich) breit gestreut, die Freiheitsrechte durch das Grundgesetz verbürgt, der Anblick globaler Turbulenzen von zuhause aus, digital allemal, mit Leichtigkeit verkraftbar. Und internationalen Bitten, Deutschland möge sich international mehr engagieren, wird großzügig durch über ein Dutzend Bundeswehreinsätze entsprochen. Kein Grund also zur Sorge – weiter so! Die Welt wird sich im Zweifel schon beruhigen. Im Zweifel kann die deutsche Erfolgsgeschichte seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und sodann seit der Wiedervereinigung für andere Länder sogar Vorbild sein. Nur etwas wird diese weithin geteilte Sichtweise vielleicht getrübt von misslichen Entwicklungen fernab in der Welt und von einigen neuartigen innergesellschaftlichen Trends.
Ob die Welt tatsächlich so beschaulich ist, scheint zumindest fragwürdig. Die zuletzt häufiger erhobene Aufforderung zur Verteidigung unserer „Werte“, da diese „alles andere als selbstverständlich“ seien, klingt manchem mitunter wie ein gefährlich blutleeres Ritual, das sich eben zu Jubiläumszeiten abspielt (Merkel zit. in FAZ 2019b). Es gibt deshalb zunehmend Stimmen, die den Eindruck haben, dass ein führungsschwacher Westen heute in eine gefährliche Zeitenwende tritt. Was wiederum zu der Frage zwingt, wie diese Welt beschaffen ist, in der Deutschlands Bedeutungslosigkeit viele Partner, aber nicht uns, erheblich irritiert und sie zum Handeln an Berlin vorbei leitet. Macrons pointiertes Interview vom November 2019 war auch Ergebnis deutscher Überheblichkeit, im alleinigen Besitz der Moral den einzigen Weg in die Zukunft zu kennen (ohne diesen allerdings skizzieren zu können). Die gegenwärtige deutsche Verteidigungsministerin nimmt deshalb richtig an, dass Krieg in Europa eben nicht für immer gebannt ist und das Modell des Westens nicht das globale Modell der Zukunft ist. Aus vier Gründen: Durch den seit 2014 wütenden Ukraine-Krieg hat sich Russland absehbar als Partner desavouiert. Putin will eine vorgelagerte Pufferzone und hat aus purem Machtstreben heraus die nukleare Balance in Europa zu seinen Gunsten verändert. Zweitens greift Chinas wirtschaftliche Macht krude über die Seidenstraße nach Europa aus, importiert sein autoritäres Modell mit seinen Investitionen und erzwingt Wohlverhalten. Xi Jinping will dabei explizit nicht länger ein Deng Xiaoping sein und beginnt, stärker Wilhelm II. zu ähneln als Bismarck. Seine Ambitionen werden mithin in einem für deutsche Dimensionen nicht mehr greifbaren militärischen Aufwuchs erkennbar, der zunächst der Rückgewinnung von Chinas historischer Einflusssphäre dient. Drittens: Die amerikanische Beistandsgarantie gilt nicht mehr vorbehaltlos. Donald Trump steht hier trotz Verstärkung seiner NATO-Beiträge im Mittelpunkt, aber die Abwendung von Europa begann vor ihm und wird sich nach ihm fortsetzen. Schließlich: Europa profitiert noch von seiner Rolle als globale Wirtschaftsmacht, erkennt auch langsam, dass es global handlungsfähig werden muss – tut aber nichts dafür, die angemahnte „Sprache der Macht“ zu sprechen (Borrell 2020).
Die Instabilität, die sich angesichts dieser Zeitenwende aus westlicher Uneinigkeit ergeben hat, fällt dabei ganz wesentlich auf Deutschland zurück. Es war der polnische Außenminister, Radoslav Sikorski, der 2011 sagte, er fürchte nichts mehr als deutsche Untätigkeit in strategischen Fragen. Im Sinn hatte er damit eine von Nachlässigkeit geprägte Haltung gegenüber dem Bestand jener westlichen Weltordnung, der Deutschland seinen Wiederaufstieg, Wohlstand und seine Freiheit zu verdanken hat. Seit 2018 jedoch ist Polen erfolgreich damit beschäftigt, eine in Deutschland stationierte US-Brigade durch ein Stationierungsabkommen mit Amerika nach Osten zu lotsen. Wie im Brennglas zeigt diese Entwicklung eben jene selbst verschuldete internationale Bedeutungslosigkeit Deutschlands, der Sikorskis Furcht galt. Strategie, nein danke! Berlin darf sich aber heute nicht länger schlafwandlerisch in vielen gut gemeinten Reden zum Erhalt der liberalen Weltordnung – allesamt ohne zentrale Vision für den Westen – am harten strategischen Kern der Zeitenwende vorbeidrücken.
Vielmehr ist es in diesem Umbruch von alles überragender strategischer Notwendigkeit, die Voraussetzungen zu schaffen, damit unsere Lebensader, die vitale Sicherheitsgarantie der NATO, politisch das besitzt, was sie militärisch unschlagbar macht: Glaubwürdigkeit, die auf Vertrauen beruht. Es gilt jetzt, Europa so unverzichtbar für Washington zu machen, dass gemeinsam entschieden und gehandelt wird. Deutschland darf in Europa nicht länger durch seinen Verzicht auf Handeln den Charakter jener Ordnung gefährden, die es so lautstark einfordert. Denn: Militärische Macht durchzieht alle staatliche Beziehungen der internationalen Politik. Und zwar ausnahmslos. Mit bitterernster Selbstverständlichkeit erinnerte Frankreichs Präsident Macron daran in seinem bereits erwähnten Interview: „These days, if you don’t have military credibility, in a world where authoritarian powers are on the rise again, it won’t work“ (Economist 2019).1 Ohne Stärkung seiner militärischen Fähigkeiten und der politischen Entschlossenheit in der gegenwärtigen Zeitenwende zu handeln, wird Europa deshalb die USA nicht vom unilateralen Pfad abbringen. Das ist die eigentliche Bedeutung der Zwei-Prozent-Verpflichtung der Regierungschefs, die sich nicht von kurzsichtigen Buchhaltern beirren lassen dürfen.
Deutschland obliegt damit in Europa die zentrale Aufgabe, Amerika an Bord zu halten, indem es die Sicherheitsgarantie der NATO strategisch begreift. Die Chance hierzu besteht weiterhin, denn auch Amerika braucht Verbündete, braucht Europas sichere atlantische Gegenküste. Nur mit den Europäern können die Amerikaner Weltmacht Nr. 1 bleiben, nur mit ihnen aus der Konfrontation mit China Kooperation machen. Die Arbeitsteilung der NATO, die in einem erneuerten transatlantischen Bündnis über Zentraleuropa hinausgehen wird, muss so aussehen: Europa unterstützt die USA vis-a-vis China politisch, wirtschaftlich, technologisch und mit militärischer Präsenz und Amerika unterstreicht unzweideutig seine nukleare Rückversicherung für ein militärisch aufwachsendes Europa vis-a-vis Russland. China und Russland wird damit überdies unmissverständlich vor Augen geführt, was beide nicht haben: mächtige Allianzen.
Die Zukunft Europas liegt somit nicht in der naiven Idee einer Europaarmee, sondern in einer strategisch neu formierten NATO, in der ein notfalls auch eigenständig für Europa handelnder, aber mit den USA verkoppelter europäischer Pfeiler entsteht, zu dem Deutschland jetzt wesentlich beitragen muss, politisch und militärisch. Europas Beitrag in dieser Neuausrichtung der Allianz muss auch nukleare Kooperationsformen beinhalten. Deren Form müssen strategische Überlegungen bestimmen, nicht die kurzsichtige Erpressung mit europäischen Rüstungsprojekten. Dadurch gelängen dem Kontinent im selben Atemzug zwei strategische Rückversicherungen: gegen den worst case, in dem Amerikas unilateraler Instinkt in einem nicht unmöglichen Krieg gegen China doch obsiegt. James Mattis mahnte ja nicht zuletzt, Amerika könne nicht zwei Großkriege parallel führen. Macrons aus der Enttäuschung über Berlin geborenes Rapprochement mit Russland vom August 2019, nun verstärkt durch seine nur Russland begeisternde Kritik an der NATO, darf nicht Teil europäischer Strategie werden, selbst wenn Amerika dies angesichts der Spannungen mit China goutieren würde. Nur ein Europa, das sich glaubhaft schützen will und kann, wird die USA an Bord halten. Nur als Verbündeter Nordamerikas wird es Russland dazu bringen können, erneutem Dialog zuzustimmen.