Strategie als Beruf. Maximilian Terhalle
strategische Handlungsspielräume werden kategorisch durch das Spannungsfeld zwischen den Großmächten Amerika, China und Russland definiert. Das antagonistische Umfeld wird somit durch die jeweils vorherrschenden Großmächte und die interaktive Dynamik zwischen diesen bestimmt. Dabei ist entscheidend, welche Analyse der internationalen Sicherheitspolitik die traditionelle Schutzmacht Europas zum Erhalt ihrer Vormachtstellung, also gegenüber etwaigen Herausforderern, vornimmt. Nur aus dem so angelegten Verständnis von Amerikas militärischer Glaubwürdigkeit und seiner Kapazitätsgrenzen lässt sich erkennen, wie es tatsächlich um den militärischen Schutz deutscher und europäischer Souveränität bestellt ist. Und nur aus Amerikas Perzeption der internationalen Sicherheitspolitik lässt sich dann erkennen, welche Rolle Amerika durch die NATO zum Schutz Deutschlands und Europas einnehmen kann und will. Umgekehrt impliziert dies, was die Europäer deshalb tun müssen.11
Der realistisch erst durch diese Kontextualisierung zu erkennende, strategische Zweck deutscher und europäischer Strategie wird nun deutlich: Dieser liegt in der Gewährleistung des Schutzes der vitalen Grundlagen der Sicherheit, des Wohlstands und der „Lebenswelt“ (Gauck 2017, S. 12) Europas.12 Was zunächst naheliegend erscheint, hat drei wichtige Konsequenzen. Erstens: Da Strategie den Kern von Interessen als vital herleitet, können andere Interessen, die nicht die Grundlagen seiner Existenz betreffen, nicht Prioritäten abbilden. Zweitens: Die Handlungsnotwendigkeiten, die sich aus dieser Vermessung des Spielraums ableiten, sind der Kern deutscher und europäischer Strategieplanung.13 Die politisch zu schaffenden, innereuropäischen Voraussetzungen derjenigen Option, die der Erreichung des Strategiezwecks am dienlichsten erscheint, werden im folgenden Kapitel vertieft. Hier genügt zunächst der Hinweis auf den militärischen Teil der unten folgenden politischen Antwort dahingehend, dass eine adaptive Stärkung der NATO zu einem transatlantischen, innovativen burden-sharing führen kann. Aus diesem neuen transatlantischen Konsens leitet sich die Stärkung der NATO ab und damit die Stärkung jenes Instruments, das den deutschen und europäischen Strategiezweck gewährleistet. Drittens: Erst am Ende dieser strategischen Bestimmung des politischen Zwecks deutscher und europäischer Macht steht die Frage nach der Beschaffenheit militärischer Kapazitäten.14
Aber wie sieht nun die für Europa weitreichende strategische Perzeption Amerikas von internationaler Sicherheitspolitik konkret aus? Wesentlich für das Verständnis ist dabei, den entscheidenden Unterschied der Weltlage im Vergleich zum Kalten Krieg zu erkennen. Nur dieser ist für das Verständnis von Amerikas strategischer Ausrichtung (und dessen Grenzen) entscheidend. Der wesentliche Unterschied zur Zeit vor 1989, ungut übersehen, liegt dabei doch genau darin, dass Amerikas Kerninteressen nicht mehr wie seinerzeit allein auf Europa begrenzt sind. Das demographisch wachsende Asien ist als größter und wachsender Wirtschaftsmarkt der Welt hinzugekommen und konzentriert das amerikanische Interesse entsprechend neu – und teilweise weg von Europa. China ist in diesem Prozess des 40-jährigen Wachstums der zentrale strategische Widersacher Amerikas geworden, nicht, wie häufig angenommen, der neue große liberale Partner. Die interaktive Dynamik zwischen China und Russland bedeutet jetzt, dass signifikante Entwicklungen, die eines der beiden Länder betreffen, Wirkung auf das Umfeld des jeweils anderen haben – und auf Amerikas Reaktion und Neuausrichtung der USA auf diese doppelte Herausforderung. Es gehört darüber hinaus zur Logik interaktiver Dynamik zwischen Russland und China, dass Washingtons militärische Kapazitäten heute strategisch extrem zwischen zwei geographisch weit voneinander entfernten Regionen gedehnt sind. Das waren sie in vergleichbarer Form während des Kalten Krieges gerade nicht. James Mattis hat in dieser Hinsicht bereits 2017 auf die Frage, ob Amerika zwei Kriege parallel führen könne, mit einem klaren „No, Sir!“ geantwortet (zit. n. Hennigan 2017).15 Kürzlich wurde dies von einer überparteilichen Gruppe von Senatoren bestätigt (Charter 2018). In China und Russland haben dies viele wahrgenommen. In Berlin und Paris nur wenige.
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