Strategie als Beruf. Maximilian Terhalle
noch) unklare Morgen Entscheidungen treffen zu müssen. Der Historiker Hermann Oncken (1935, S. 365–366) hat das ebenso gerne zitierte wie verkürzt verstandene Wort Bismarcks über Politik als die „Kunst des Möglichen“ richtig gefasst: Der Stratege müsse nicht nur „die Realitäten, die ihn umgeben“, mittels eines „sachlichen Wirklichkeitssinns“ verstehen, vielmehr müsse er „die noch schwerer erlernbare Fähigkeit, […] das noch nicht Wirkliche rechtzeitig zu erkennen“ durch einen „Instinkt für die unsichtbaren und unwägbaren Dinge“ erfassen. Nur so könne er „auf der Brücke zwischen dem Gegenwärtigen und dem Zukünftigen“ bestehen. Damit wird deutlich, dass der Stratege zwar die Realitäten der Gegenwart berücksichtigen müsse, aber darüber hinaus und trotz unausweichlicher Imponderabilien, immer in größeren Kontexten über diese hinausdenken und eine Vision davon haben, wie er die strategische Sicherheit eines Landes in die Zukunft hinein sichern will. Das Verdikt Helmut Schmidts gegen Visionen zerfällt somit im Strategischen. Der französische Präsident Emmanuel Macron hat dies kürzlich richtig betont (Kegel 2017).14
Die Forschung ist sich angesichts multikomplexer Kontexte dabei der Spannungen zwischen kurz- und langfristig angelegter Planung mit Blick auf die kognitiven Anforderungen an Strategen bewusst.15 Wesentliche Autoren wie Lawrence Freedman und Beatrice Heuser argumentieren heute, dass Strategen ihre Entscheidungen für die eine, aber gegen andere Optionen auf einer dualen Logik aufbauen. Entgegen der Annahmen von Rational Choice-Theorien, die die Fähigkeit zur kontextuellen Verarbeitung sämtlicher situationsbezogener Informationen mit der Geschwindigkeit eines Hochleistungsrechners voraussetzen, aber Reziprozitäten, Friktionen und individuelle Weltbilder vernachlässigen, zeigen sie mittels kognitionspsychologischer Erkenntnisse, dass zwei Logiksysteme in einem akuten Konfliktfall miteinander rivalisieren und sich im günstigen Fall, aber keineswegs zwingend, komplementieren.
Das erste System sind tief verinnerlichte Stereotypen und Weltbilder, die intuitiv und selektiv die Komplexität der jeweiligen Konfliktsituation kognitiv herunterbrechen und dadurch greifbar machen. Das zweite System kann als Korrektiv des ersten fungieren, indem es die Angemessenheit des Stereotyps für den neuen Kontext mittels langfristigen Sachverstands überprüft. Die Intervention des zweiten Systems mag dabei das rationale Element in der Strategieauswahl betonen, dominiert das erste System aber nicht verlässlich. Im günstigen Fall, dass es sich durchsetzt, kann es ein visionäres Narrativ aus der Gegenwart für die Zukunft generieren, das sich der Realitäten der Gegenwart im Sinne Onckens bewusst ist und die jeweilige Gefolgschaft überzeugt. Falls dies nicht gelingt, kann die intuitive Anwendung des hergebrachten Stereotyps trotzdem treffsicher sein oder aufgrund veränderter internationaler Kontexte zum potentiell desaströsen Analogiefehlschluss führen (Freedman 2013, S. 600–606, 612–615).16 Nie auszuschließende Zufälle, Friktionen, in einem Wort „system effects“, komplizieren die Erfolgswahrscheinlichkeit zudem (Jervis 1997).
Dies lässt den Schluss zu, dass es den mit hyperkomplexer Kontextualisierungsfähigkeit ausgestatteten Meisterstrategen nicht geben kann.17 Vielmehr weist sich der erfolgreiche Stratege durch die Kombination rationaler Intelligenz, intuitiver Perzeption und der Fähigkeit aus, Regierungsapparat, Bevölkerung und Verbündete von seiner realitätsnahen Vision zu überzeugen. Dies kann, wenn überhaupt, nicht einem Militär, sondern nur einem Spitzenpolitiker gelingen, der erhebliche Überzeugungsfähigkeiten mitbringt.18 Langfristig angelegte Wissensbestände und situative Kenntnis über das große Ganze, in dem die jeweilige Strategie entwickelt wird, können dabei durch klare Prioritätensetzung nutzbar gemacht werden und fundamentale Vorteile schaffen. In der Praxis aber, zuweilen als „Fahrt auf Sicht“ (FAZ 2015) bezeichnet, verliert solche mitunter politisch unerwünschte strategische Kontextualisierung, zu häufig, ihre vitale Rolle. Oder sie scheitert schlicht an der Entscheidung des Strategen, seine Energie auf kognitiv greifbare, unmittelbare Konfliktsituationen zu verwenden, anstatt sein Handeln durch jene größeren Kontexte zu konturieren, die durch die Annahmen der antagonistischen Natur von Politik nahegelegt werden. John Gray (2016, S. 115) hat dies so gefasst: „The great stream of time is a potent concept, but it lacks executive authority“.
6. Definition Strategie
Nur aus dem Vorgesagten wird nun deutlich, warum dieser Aufsatz eine Definition von Strategie erst an diesem letzten Punkt, durch den die prinzipielle Zweiteilung von Strategie deutlich wird, liefern kann und will. Denn: Es ist ein weitverbreiteter Irrtum der Wissenschaft, Strategie vornehmlich, wenn nicht ausschließlich, durch das Element der langfristigen Planung zu charakterisieren. Natürlich kann dies durch Clausewitz’ Insistieren auf die Wichtigkeit des Planungsprozesses bereits zu Friedenszeiten gerechtfertigt werden; und auch dadurch, dass Regierungsapparate über Jahre und Jahrzehnte ein Maß an Erfahrung und Wissen ansammeln, das im Entscheidungsfall eines Konflikts, falls entsprechend präpariert, organisatorisch eine zentrale Rolle bei der Sondierung von Optionen spielen kann. Diese Funktion hat grundsätzlich auch die Strategielehre, wenn sie in der Lage ist, in der Konfliktphase analytische Denkräume parat zu halten, die Entscheidungen beeinflussen können. Gleichwohl, und dies ist das wahrscheinlich größte Defizit der Wissenschaft, die qua natura langfristig angelegt ist, ist dieses auf Langfristigkeit zielende Element inhärent durch die Strategiebildung begrenzt, sofern sie vom Entscheider her gedacht wird. Dieses oben sogenannte System 1 gerade nicht als das dem System 2 faktisch überlegene System zu verstehen, das per Intuition (und zuweilen unter Zeitdruck) versucht, komplexe Sachverhalte zu verstehen und Entscheidungen fällen und dafür Verantwortung übernehmen muss, ist die Achillesferse jener Forschung, die Strategie nur durch die Linse Langfristigkeit betrachtet. Wenn es zum Schwur kommt und Komplexität wie im Brennglas kognitiv heruntergebrochen werden muss, dann zeigt sich die Einseitigkeit des noch immer vorwaltenden Verständnisses von Strategie als langfristige Konfliktplanung. Ohne Kenntnis des Weltbilds der wichtigsten Entscheider bleibt das Verständnis von und für Strategie in stärkstem Masse eingeschränkt. Solche Weltbilder spiegeln die Verarbeitung zentraler Lebenserfahrungen und wertebezogene Wesenszüge einer Person wider, die in kritischen Situationen das Entscheidungsverhalten dominieren. Der biographische Zweig der Strategie-Forschung (mindmaps) hat dies griffbereit aufgearbeitet.
Daraus ergibt sich folgende Definition von Strategie, die der Lehre von Strategie in Zukunft zugrundeliegen sollte: Strategie ist langfristige Konfliktplanung und akute konfliktangetriebene Entscheidungsfindung in einem. Langfristige Konfliktplanung kann Konflikt verhindern. Exekutive Entscheidungsfindung kann aber aufgrund ihrer stärker kurzfristigen Natur zu Friedenszeiten die Unmittelbarkeit langfristiger Planung bestreiten und zurückweisen. Im tatsächlichen Konfliktfall obliegt es Strategen, Situationen intuitiv, planerisch oder mittels einer Kombination beider Elemente entgegenzutreten. Nicht lineare Adaptionsfähigkeit entscheidet im Verlauf eines Konflikts darüber, ob die eigene Sicherheit vollständig erhalten werden kann. Strategien verstehen sich als existentiell ausgerichtet, weil sie sich gegen Herausforderungen an die eigene Existenz stellen.
7. Strategielehre und Deutschlands Strategiebildung
Nach Clausewitz ist die (noch zu etablierende) Strategielehre dazu geeignet, „manchen Faltenkniff in den Köpfen der Strategen und Staatsmänner auszubügeln“ (zit. n. Heuser 2005, S. 14). Für die Lehre von der Strategie ergeben sich aus dem Gesagten mindestens sechs Möglichkeiten, die Formierung deutscher Strategiebildung analytisch zu unterstützen.
Für die Nicht-Großmacht Deutschland bringt das antagonistische Prinzip erstens Klarheit bei der strategischen Prioritätensuche. Aus diesem Prinzip folgt, dass die Fundamente freiheitlichen Lebens konsequenterweise jene Inhalte sind, für deren Verteidigung Berlin ultimativ Macht einzusetzen bereit sein muss. Praktisch gewendet: Wenn die NATO, also auch Deutschland, nicht das Bündnis, also die Fundamente der politischen Freiheit und Lebenswelt schützen kann, dann muss Deutschland dies zur exklusiven Priorität des Bündnisses machen – und die Notwendigkeit nicht existentieller Einsätze wie Mali oder Afghanistan kritisch überdenken. Aus ihrer klassisch realistischen Grundierung heraus kann Strategielehre