Strategie als Beruf. Maximilian Terhalle
aus Artikel 5 des Nordatlantikvertrags hervorhob. Als Henry Kissinger dann kurzzeitig Trumps pro-russische Ausrichtung unterstützte, um Chinas militärisches internationales Erstarken durch Entzug seines einzigen starken Verbündeten zu konterkarieren und China damit zu isolieren, hätte dies unausweichlich das Kollabieren der Russlandpolitik des Kabinetts Merkel III – da ohne militärische US-Deckung – zur Folge gehabt (Roloff und Tiede 2016; Pomfret 2016). Bis Mitte des Jahres 2017 schien sich die aus schierer Verzweiflung (da aus Unkenntnis von Trumps Weltsicht) geborene Hoffnung vieler Transatlantiker zu erfüllen, der Präsident nähere sich dem hergebrachten Verständnis von Artikel 5 wieder an. Aber bereits Trumps Rede im September vor den Vereinten Nationen wiederholte seine unmissverständliche Mahnung an Verbündete, sich nicht auf „weit entfernte Länder“, ergo die USA, zu verlassen (United Nations General Assembly 2017, S. 10). Ein durchgestochenes Geheimpapier der NATO vom Oktober, das das Bündnis für nicht verteidigungsfähig erklärte, zeigte dann wie im Brennglas die ganze Ohnmacht deutscher Sicherheitspolitik auf (FAZ 2017). Dass Sigmar Gabriel im Dezember 2017 von der Notwendigkeit einer „strategischeren Außenpolitik“ (Gabriel 2017) sprach, beleuchtete nur den überfälligen Charakter der kommenden Debatte. In dieser wird es um nicht weniger als den Wesenskern deutscher und europäischer Sicherheit gehen. Die Absenz freilich einer systematischen Debatte über Strategie überlässt diesen Kern in unguter Weise der Tagespolitik (wiewohl diese unbestreitbar den Takt des politischen Lebens in Berlin bestimmt).
Dieser Artikel versteht sich deshalb als erster Aufriss eines Forschungsthemas, das in Deutschland bis heute vernachlässigt und nicht systematisch bearbeitet worden ist. In diesem Sinne bietet der Aufsatz einen knappen Überblick über einige wesentlichen Aspekte zum Thema Strategie.2 Bei der Benennung des Forschungsgegenstands wird hier nicht die wörtliche Übersetzung von Strategic Studies adoptiert, sondern das Fach als Strategielehre bezeichnet.3
Die Ausführungen sind folgendermaßen gegliedert: Zunächst wird, im zweiten Abschnitt, dargelegt, warum und wie es überhaupt zu dem ausweislichen Mangel an Strategielehre in Deutschland gekommen ist. Sodann werden die Wurzeln der antagonistischen Natur der Strategielehre im dritten Abschnitt dargelegt, ohne deren nicht deterministische Konnotation zu übersehen. Im vierten Abschnitt wird gezeigt, wann die Anwendung von Strategien überhaupt notwendig wird und warum die Konfliktnähe der Strategielehre keineswegs und ausschließlich bedeutet, dass ihr Ansatz erst beim Ausbruch von Gewalt Geltung erhält, sondern Strategieplanung potentielle Konflikte zu antizipieren sucht und deshalb bereits zu Friedenszeiten beginnt. Im nächsten, fünften Abschnitt hebt der Aufsatz einige der klassischen Einsichten Clausewitz’ hervor und zeigt ihre heutige analytische Vitalität auf. Eingebettet in diese heute besonders international stark erforschten Ideen Clausewitz’ wendet sich der Artikel der in Deutschland ebenfalls weitgehend vernachlässigten angelsächsischen Literatur in einem sechsten Abschnitt zu. Dies ist nicht zuletzt notwendig, weil deren Autoren zu wesentlichen Ideengebern bei der systematischen Erfassung moderner Strategielehre geworden sind. Erst aus dieser Synthese klassischer und moderner Literatur zum Thema lässt sich Strategie definieren als langfristige Konfliktplanung und akute konfliktangetriebene Entscheidungsfindung in einem dies wird im siebten Abschnitt präsentiert. Im Anschluss, dem achten Abschnitt, macht die Analyse sechs Vorschläge, wie Deutschland konkret von der hier umrissenen Strategielehre profitieren könnte. Abschließend fasst der Artikel die Ergebnisse zusammen und fordert, dass ein neu zu schaffendes Internationales Strategiekolleg, das Sigmar Gabriels Forderung nach einer strategischeren Außenpolitik aufnimmt, am Wissenschaftszentrum Berlin angesiedelt werden sollte.
1. Land ohne Strategie(lehre)
Zunächst: Warum gibt es in Deutschland einen Mangel dessen, was hier als Strategielehre bezeichnet wird? Aus dem Zweiten Weltkrieg kommend, entschloss sich das nicht souveräne Westdeutschland, seine politische Verfasstheit, Außenpolitik und Sicherheit in Europa und mit Amerika zu verankern. Ostdeutschlands Kommunisten folgten ihrer Ideologie und unterwarfen sich der Sowjetunion. Den Glanz des Wirtschaftswunders konnte Bonn über die Jahre hernach nur erringen, weil seine Gesellschaft – und Exportmöglichkeiten – vom amerikanischen Militär geschützt waren. Die Bundeswehr spielte darin zwar die gewichtige Rolle des zentralen Truppenstellers, aber die Bundesregierungen blieben in den großen Fragen der nuklearen Auseinandersetzung der Supermächte ein, wenn auch meist sehr geschätzter, Befehlsempfänger (Heuser und Stoddart 2017, S. 455).4
Ein ehemaliger deutscher General brachte dies auf den Punkt, als er konzedierte, die Lehre in der Generalstabsausbildung „konzentrierte sich auf die Ebene der Taktik und der Truppenführung. Die Entwicklung der Strategie dagegen war Sache des Bündnisses“ (Heuser 2005, S. 27).5 Bei der NATO, anders als beim Warschauer Pakt, gab es unbestreitbar Möglichkeiten des Austauschs mit den USA; dass aber die Prioritäten der Planung und deren Festlegung durch die harte Hand Amerikas geschahen, daran ließ Washington nie geringsten Zweifel aufkommen. Die USA sahen nach dem Ende des Kalten Krieges infolgedessen keinen Grund, an dieser Handhabung der Allianz etwas zu ändern. Somit war es die Dominanz der USA im Bündnis, die das Entstehen deutschen strategischen Denkens systematisch unterlief und wesentlich zu dem konzeptionellen Vakuum beitrug, das bis heute prägende Wirkung hat. Unter vielen (nicht allen) deutschen Politikern, Generälen und Diplomaten hat dies eine Haltung befördert, die kaustisch so zusammengefasst worden ist: „No strategy, please, we are Germans“ (Mangasarian und Techau 2017, S. 170).
Im intellektuellen Milieu, das qua Denomination dem Gegenstand am nächsten steht, der Internationalen Politik, zeigen sich ähnlich unstrategische Grundzüge. Nach dem Zweiten Weltkrieg entfernte sich das von Max Horkheimer marxistisch ausgerichtete Fach schnell vom antitotalitären Konsens der jungen Bundesrepublik und richtete sich konsequenterweise betont antiamerikanisch aus. Deutschjüdische Emigranten wie Hans Morgenthau, die wesentlich zum Aufbau einer weltweiten realistischen Schule von den USA aus beitrugen, wurden hierzulande nicht rezipiert. Folgenschwer war dann der Einfluss von Jürgen Habermas, der sich als Philosoph in die Politik(wissenschaft) einmischte. Indem er sich mittels seiner Kommunikationstheorien von jeglichen machtorientierten Ansätzen abgrenzen wollte, goss er eine spezifisch deutsche Schlussfolgerung aus dem Zweiten Weltkrieg in seinen generalisierenden Ansatz. Im Kern wollte er Interessenkonflikte jedweder Natur innerhalb eines Staates (ausschließlich westlicher Demokratien, wie er unterschlug) und darüber hinaus international immer kommunikativ auflösen. Dass Konflikte inhärenter Bestandteil des Zusammenlebens sozialer Gruppen waren und Macht dabei jedwede soziale Beziehungen (mit-)bestimmte, auch nach dem Zweiten Weltkrieg, dem verschloss er sich. Genau dies zwang den Doyen der Oxforder Politikwissenschaft, Andrew Hurrell (2011, S. 150), kürzlich festzustellen: „Habermas’s work is inexplicable outside of the social, political and historical consciousness of Germany“.
Trotz des Endes des Kalten Krieges hat das Fach das machtfremde Muster Habermas’ tradiert. Entsprechend einer realistischen Schule hat die sich selbst so bezeichnende professionelle Politikwissenschaft seitdem fast exklusiv die mit Kommunikationstheorien eng verzahnten Kooperationstheorien zur Analyse von Global Governance-Aspekten genutzt. Gleich geblieben sind der axiomatisch strategie- und machtfremde Charakter der Fachdebatten (sowie der Lehre) und die oft als nebensächlich betrachtete Rolle des Nationalstaates in Zeiten der Globalisierung.6 Dass seit Habermas’ Zeiten die gleichsam extreme Spezialisierung des Faches (wie anderswo) unzählige Experten hervorgebracht hat, denen die Synthese größerer internationaler Zusammenhänge im Widerspruch zu ihren häufig engen, professionellen Sichtweisen steht, hat damit eine weitgehende, kosmopolitisch unterzeichnete Außerachtlassung von Fragen bewirkt, die die Grundlagen von Strategie und internationalen Ordnungen betreffen (Terhalle 2015, 2016). Nicht ganz zu Unrecht haben führende US-Vertreter des Fachs deshalb frühzeitig jenen „Flight from Reality“ (Shapiro 2007) beklagt, der hierzulande tiefe Spuren hinterlassen hat. Deutlichster Ausdruck dessen ist bis heute die Absenz von Lehrstühlen, die sich dem ganzheitlichen Studium von Strategie widmen.
Teile der politischen und intellektuellen