Strategie als Beruf. Maximilian Terhalle
ableiten. Aber die Niederlage, die Reinhart Koselleck (1988, S. 13–61) den Deutschen just noch ein Jahr vor dem Mauerfall als Reflektionsfolie für die „Historie der Besiegten“ anbot, ist längst in bester deutscher Manier gründlichst aufgearbeitet – und durch die Verankerung im westlichen Bündnis praktisch umgesetzt. Als Tugend missverstandene, teils verinnerlichte Selbstzweifel und auch instrumentalisierter Vergangenheitserhalt sind habituelle Restbestände einer gleichsam provinziellen Moralistik in einem weltweit respektierten Land, die innergesellschaftlich erodieren, weil sie den gärenden Paradigmenwechsel mit Ideenlosigkeit kaschieren, jedoch außenpolitisch ohne Resonanz bleiben.7 Dabei hatte Joachim Gauck noch in einer seiner letzten Reden 2017 auf „das Wichtigste“ hingewiesen, auf das Deutschland sich längst verlassen kann, „eine Haltung“ nämlich, die „durch Vertrauen zu uns selbst, das Vertrauen in die eigenen Kräfte“ geprägt ist (Mangasarian und Techau 2017, S. 163).8
Die Konsequenzen für das strategische Denken in Deutschland sind demgemäß nicht vorteilhaft gewesen: Obwohl die Chefplaner von der Strategiebildung der Weltpolitik praktisch weitestgehend entkoppelt waren und weil das intellektuelle Milieu jegliche Neugierde an Strategie eo ipso negiert hat (und damit auch vorhandene Wissensbestände im westlichen Ausland) haben sich die deutschen Planer genauso pragmatisch wie schlicht bar analytischen Rüstzeugs an ihre Arbeit gemacht. Unweigerlich hat das taktisch sozialisierte, Apparat-interne Nachdenken damit über Jahrzehnte eine antiintellektuelle Position entwickelt, die die Vielfalt und systematische Reflektionsfähigkeit externer Denktraditionen vernachlässigt hat.
Diese Tradition hat im sicherheitspolitischen Milieu die ungute Tendenz vieler politischer Praktiker (nicht aller) verstärkt, schlicht Lösungen für konkrete Probleme zu suchen. Und dies ohne zunächst die ihnen eigenen Herangehensweisen und Weltbilder, selbst angesichts weltpolitischer Umbrüche, auf den Prüfstand zu stellen. Die Unbestimmtheit ihres Pragmatismus ist dabei ja, entgegen eigener Überzeugung, immer von unausgesprochenen Annahmen geprägt, die in die Entscheidungsfindung einfließen.9 Deshalb ist mangelnde, ernsthafte Reflektion über die Parameter dieses stets funktionierenden Pragmatismus ein schwerwiegender Grund, warum Umbrüche der Gegenwart nicht angemessen zu fassen sein mögen. Darüber hinaus hat diese Tradition ein Denken dahingehend vertieft, dass viele Praktiker die Grenze der Kunst des Möglichen dort ziehen, wo das Heute aufhört, weil sie amtierenden Bundesregierungen in strategischen Fragen nicht vorgreifen wollen. Ihr Räsonieren endet mithin dort, wo das innenpolitisch Durchsetzbare angeblich endet und internationales Recht Grenzen setzt. Indem sie damit den Status quo während der Entscheidungsfindung als unabänderlich akzeptieren, übersehen sie gleichwohl das Konflikten innewohnende Potential zur Neuerung und, zuweilen, die Notwendigkeit, dem Status quo mit Chuzpe zu begegnen, um die Zukunft zu gestalten, anstatt auf sie (spät) zu reagieren. Zentral bleibt deshalb die Forderung des ehemaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck (2014, S. 78), Deutschland „in schwierigen Zeiten […] vor allem geistige Ressourcen“ anzubieten, die das Land bei seiner Strategiebildung unterstützen. – Mit welchen Grundannahmen untermauert nun eine solche Lehre Strategie?
2. Antagonistische Natur
Die Strategielehre begreift das Politische des internationalen sozialen Lebens als antagonistisch. Die ineinandergreifenden Wurzeln dieses antagonistischen Ansatzes, der keine deterministische Konnotation besitzt, sind systemischer und anthropologischer Natur.10 Das systemische Grundbedürfnis der militärisch stärksten Mächte einer historischen Episode besteht in dem Maß an Sicherheit, das die jeweils spezifische Lebensart und die dafür notwendigen Voraussetzungen erhält (Gilpin 1981; Clark 2005). Die Sättigung dieses fundamentalen Bedürfnisses erfordert deshalb eine historisch seltene, von allen zentralen Akteuren perzipierte Zufriedenheit mit dem Status quo. Unschwer wird dadurch deutlich, dass dem Politischen aus der Sicht des Strategen Konflikte immanent sind, da einige den Status quo als benachteiligend empfinden, während andere ihre privilegierte Position herausgefordert sehen und darauf zielen, diese entweder defensiv zu erhalten oder vorhandene Vorteile weiter auszubauen. Zusammengefasst: Internationale Ordnungen sind für gewöhnlich einige Zeit lang stabil; just weil sie aber keine abstrakten Strukturen sind, sondern von, naturgemäß nie objektiven, Strategen im Sinne einer zu einem bestimmten Zeitpunkt stärksten Gruppe erdacht wurden (traditionell während/nach Kriegen) und in deren Machtverständnis adaptiv konserviert werden, bevorzugen Ordnungen immer einige und gereichen anderen, unterschiedlich stark, zum Nachteil (Buzan 2007, S. 237–46).
Die Interessenlage potentieller strategischer Antagonisten wird weiter kompliziert durch die historisch ungleichzeitige, variierende Zu- und Abnahme materieller Stärke einer zentralen Macht sowie Veränderungen ihrer ideologischen Ausrichtung. Russland und China demonstrieren diese Unzufriedenheit mit dem Status quo heute durch ihren Revisionismus. Der russische Präsident Wladimir Putin will jene geopolitische Tiefe zurückgewinnen, die er mit dem Ende des Kalten Kriegs verloren hat. Weil die Ziele seiner Strategie bisher unerreicht sind, war die Krim-Eroberung auch nicht der letzte Zug. China will seine historische Größe als Vormacht Ostasiens wieder erlangen. Seine maritime Salami-Taktik dient der langsamen Unterminierung des Vertrauens der benachbarten, kleineren Länder in die Sicherheitsgarantien der USA. Donald Trumps Revisionismus zielt darauf, dass die USA ihre von anderen angeblich missbrauchte Machtstellung durch den Rückzug von eben dieser Ordnung wiedergewinnt.
Das systemische Grundbedürfnis eines Teils der Großmächte kann damit politisch nie garantiert, sondern höchstens historisch zeitweise befriedigt sein. Für die anderen gilt, dass sie ihre Grundbedürfnisse durch die der ersten Gruppe als dauerhaft und inakzeptabel eingeschränkt sehen. Ungeachtet diplomatischer Regeln und rechtlicher Streitschlichtung macht diese Logik die Einsetzung einer effektiven Schlichtungsinstanz, die die Sicherheit von Staaten im (erkennbar werdenden) Konfliktfall regeln könnte, unmöglich. Systemische Unsicherheit über zukünftige gegnerische Intentionen in einer parteiisch bevorteilenden Ordnung ist damit der entscheidende Grund, warum das Erkennen der Intentionen von Konfliktgegnern inhärent schwierig ist – und Strategiebildung damit unerlässlich.
Die anthropologische Sicht der Strategielehre komplementiert ihr antagonistisches Fundament. In strategischen Ansätzen sind Spitzenpolitiker die wesentlichen Akteure bei der Ausgestaltung politischer Entwicklungen innerhalb von systemischen Ordnungen. Die menschliche Natur wird dabei einerseits als kooperationsfähig betrachtet, zumal dann, wenn historische Erfahrungsrahmen, gleichviel wie blutig in der Vergangenheit erkämpft, eine Zahl von Völkern politisch, kulturell und wirtschaftlich besonders eng und deshalb friedlich verbinden. Andererseits ist Kooperation über diese Verbindungen hinaus möglich, aber aus der genannten Logik heraus stets anfällig. Gerade weil benachteiligte Großmächte, in unterschiedlichem Maße, ihre Position, ihr Sicherheitsbedürfnis zu verbessern suchen und andere dies umgekehrt aus Furcht vor Machtverlust verschiedentlich konterkarieren und bzw. oder ihre bessere Sicherheitslage unabhängig davon weiter ausbauen wollen, sieht die Strategielehre die menschliche Natur als permanent anfällig für die Versuchungen der Macht an.
Thukydides’ klassisch realistisches Werk Der Peloponnesische Krieg hat der modernen Strategieforschung bereits im fünften Jahrhundert vor Christus die wesentlichen Motive menschlichen Handelns konzeptionell bereitgelegt. Forscher wie Richard Lebow, Bernard Brodie, Colin Gray, Lawrence Freedman, Graham Allison und Praktiker wie US-Verteidigungsminister James Mattis sehen deshalb in „Furcht“, „Ehre“ und „Interesse“ die zentralen Elemente menschlicher Natur, ob einzeln oder kombiniert wirkend (Lebow 2008, S. 45). Diese anthropologischen Ur-Antriebe machen „Fortschritte in der Gesittung“ in einer permanent von Unsicherheit über die Zukunft der Intentionen anderer gekennzeichneten Situation nie unmöglich, können sie aber stets begrenzen, anhalten oder revidieren (Meier 1983, S. 463). Gefühlte und bzw. oder tatsächliche Furcht treibt dabei an gegen den Verlust einer bestimmten Position, wie auch eine gefühlte und bzw. oder tatsächliche Zurücksetzung aufheben zu wollen.
Ehre, moderner vielleicht als Status ausgedrückt, ist das Ansehen in einer sozialen Hierarchie. Status kann, weil er in einer Ordnung respektive befördert oder benachteiligt