Strategie als Beruf. Maximilian Terhalle
Option und gegen andere auf einer dualen Logik aufbauen. Er importiert die wissenschaftliche Disziplin der Kognitionspsychologie in die Strategic Studies und zeigt, dass zwei Logiksysteme im Entscheider miteinander rivalisieren. Das erste sind tief sitzende Stereotype, die von lebensalterbedingten Erfahrungen, Perzeptionen und Interessen individuell geprägt sind und eine zumeist feste Weltsicht hervorgebracht haben, die die Sicht auf die Zukunft wesentlich bestimmt (System 1). Diese Stereotype brechen intuitiv und sekundenschnell komplexe strategische Situationen kognitiv herunter und projizieren sie durch die eigene Weltsicht als konkretes Handeln in die Zukunft. Das zweite System kann als Korrektiv fungieren, indem es die Angemessenheit des Stereotyps für den akuten Kontext prüft. Dieses System betont das rationale Element der Strategieauswahl, wobei es neuronal auf die simultane Kontextualisierung von höchstens sieben Faktoren begrenzt ist (Freedman 2013, 601). Nicht nur, aber auch deshalb dominiert es das erste System keineswegs verlässlich. Im Gegenteil, das erste Logiksystem prägt die unmittelbare Perzeption und lässt sich, nicht zuletzt unter Zeitdruck, nur mühsam durch das zweite revidieren. Im günstigen Fall, dass es sich durchsetzt, kann es ein visionäres Narrativ für die Zukunft schaffen, das den Charakter der Gegenwart kennt und die jeweilige Anhängerschaft innerhalb des bürokratischen Apparats erreicht sowie in der Bevölkerung mobilisiert. Falls die Korrektivfunktion misslingt, kann die intuitive Anwendung des hergebrachten Stereotyps trotzdem vollkommen treffsicher sein – oder aufgrund veränderter Kontexte zu potenziell nachteiligen Analogieschlüssen führen (Freedman 2013, Kap. 38; Kahneman 2011).
Während Freedman allerdings die Funktion der Strategic Studies ausschließlich aus der Perspektive des praxisnahen und auskunftswilligen Forschers betrachtet und andere Autoren zumeist die Sicht der häufig als – unausgesprochen – überlegenen, da reflektierteren Bürokraten im Sinne von System 2 annehmen, wählt dieses Buch einen dritten Weg. Und zwar aus folgendem Grund. Die Logiksysteme 1 und 2 interagieren, jedoch ist das erste eindeutig das stärkere Element, just weil es sich auch ohne und gegen den Rat von System 2 durchsetzen kann. Der Schlüssel liegt deshalb darin, vom Entscheider her zu denken, also das System 1 des jeweiligen Entscheiders minutiös zu kennen und es, wenn möglich, mit System 2 zu verknüpfen. Bei System 1 anzusetzen, das in der Person des Regierungschefs letztlich immer das schwerer zu beeinflussende aber entscheidende sein wird, und nicht bei System 2, scheint deshalb den realitätsnäheren Ansatz zu versprechen.
Aufbau des Buches
Der Band gliedert sich in vier Teile, die durch zwei Charakteristika zusammengehalten werden. Das erste Kennzeichen des Buches liegt darin, dass es die traditionell praktisch-empirische Herangehensweise der Strategic Studies wesentlich konzeptionell untermauert. Dies nicht, um das Fach unnötig zu akademisieren, als vielmehr die antizipierende Perzeptions- und Analyseschärfe des Entscheiders mittels konzeptioneller Grundlagen zu verbessern.
Das zweite Kennzeichen ist, dass der Verfasser nicht zuletzt aufgrund eigener mehrjähriger, praktischer Erfahrung in der nationalen und internationalen Sicherheitspolitik regelmäßig bewusst die Nähe zur nationalen, europäischen und internationalen Strategiediskussion als Alleinautor oder Co-Autor gesucht hat. Er sieht die Intellektuellen, wohlgemerkt eines freien Landes, deshalb nicht nur in der Pflicht, ihr komplexes Wissen von Strategiebildung dem Gemeinwohl nutzbar zu machen, sondern hält es auch für notwendig, dass sie dieses Entscheidern (und ihren Vor- und Nachdenkern) bündig und lesbar zugänglich machen.28 Deshalb finden sich in diesem Band einerseits wissenschaftliche Artikel wieder, die konzeptionelle Vorarbeit leisten und systematisch auf zentrale Fragen von Gegenwart und Zukunft eingehen sowie andererseits Kommentare und Policy-Analysen aus verschiedenen deutschsprachigen Zeitungen und englischsprachigen Journalen.
Diese Einleitung und weitere sechs Kapitel sind bisher unveröffentlichte Ausarbeitungen, die übrigen Kapitel stellen Wiederabdrucke jüngerer Publikationen dar.
Der erste Teil, „Grundbegriffe strategischen Denkens“, baut auf den Konzeptionen auf, die in dieser Einleitung gedrängt vorgestellt wurden. Es vertieft weitere wesentliche Konzeptionen der Strategic Studies und analysiert, wie sinnvoll über Handlungsspielräume praktischen strategischen Handeln nachgedacht werden kann. Dies erscheint angesichts der gängigen, für selbstverständlich gehaltenen Konstatierung der Verteidigung nationaler Interessen notwendig.
Der zweite Teil, „Analytische Einzelaspekte der Strategic Studies“, behandelt vor dem Hintergrund der neuesten internationalen Forschung Themenkomplexe wie Cyber und AI, Containment, Revisionismus, internationale Ordnung, Realpolitik und geheimdienstliche Arbeit.
Der dritte Teil, „Strategische Praxis und deutsche Sicherheitspolitik“, reflektiert die als staatsbürgerliche Pflicht des Wissenschaftlers angesehene Notwendigkeit, seine Forschungsergebnisse praxisnah publizistisch einzubringen. Dieser Teil bietet konkrete Vorschläge zu den gegenwärtigen Umbrüchen der Weltordnung. Die hierfür gewählten Formate sind internationale Policy-Journale und deutsche Tageszeitungen.
Der vierte Teil, „Strategic Studies als ‚black elephant‘29 der deutschen ‚Internationalen Beziehungen‘“, beschäftigt sich mit der bis heute nicht erreichten Institutionalisierung der systematischen Analyse strategischen Denkens an deutschen Universitäten. Der Ruf von Bundespräsident Joachim Gauck von 2014, der diesen weißen Fleck genau markierte, ist längst verhallt. Der öffentliche Resonanzboden für strategische Debatten endet deshalb bis heute an den Eingangstoren politikwissenschaftlicher Institute. Dass „wir … heute Zeugen einer zunehmend destruktiven Dynamik der Weltpolitik“ sind, wird dort im Idealfall schulterzuckend gesehen, aber nicht systematisch universitär aufgearbeitet (Steinmeier zit. in FAZ 2020). Strategie und ihr Studium sind der black elephant, den der Singapurer Spitzenbeamte Peter Ho kognitionspsychologisch sehr treffend in einem anderen Zusammenhang so beschrieben hat (2017): „The black elephant is a problem that is actually visible to everyone, but no one wants to deal with it, and so they pretend it is not there.“ – Die diesbezüglichen Defizite lassen sich durch eine genaue Betrachtung und Kritik des Global-Governance-Mainstreams innerhalb einer sich selbst so bezeichnenden Disziplin der „professionellen Internationalen Beziehungen“ untersuchen, die seit den 1990ern übergreifend die Disziplin dominiert haben. Das Buch zeigt anhand der Themenfelder Macht und Praxisferne, worauf die Defizite der „IB“ beruhen und welche Desiderata dies offensichtlich gemacht hat. Dieser Band setzt mittels der in Deutschland fast vollständig außer Acht gelassenen Strategic Studies genau hier an.
Literatur
Baylis, John und Wirtz, James (2019) Introduction: Strategy in the Contemporary World. In: iidem (Hgg.), Strategy in the Contemporary World. Oxford University Press 2019, 6.A., 1–15.
Berlin, Isaiah (1996) The Sense of Reality. New York: Farrar, Strauss and Giroux.
Biddle, Stephen (2004) Military Power. Explaining Victory and Defeat in Modern Battle. Princeton University Press.
Booth, Ken/Wheeler, Nicholas (2018) Uncertainty. In: Williams, Paul/MacDonald, Matt (Hgg.) Security Studies: An Introduction. New York: Routledge.
Borrell, Josep (2020) Embracing Europe’s Power, 8.2. https://www.project-syndicate.org/commentary/embracing-europe-s-power-by-josep-borrell–2020–02 (angesehen, 9.2.).
Butterfield, Herbert (1951) History and Human Relations. London: Collins.
Clark, Ian (2005) Legitimacy and International Society. Oxford: Oxford University Press.
Clausewitz, Carl von (1980) Vom Kriege. Hg. von Werner Hahlweg. Dümmler Verlag Bonn, 19.A.
Coker, Christopher (2017) Rebooting Clausewitz. ‘On War’ in the 21st Century. London: Hurst.
Economist (2019) Transcript. Emmanuel Macron in his own words (English). The French president’s interview with The Economist, 7.11. https://www.economist.com/europe/2019/11/07/emmanuel-macron-in-his-own-words-english (angesehen, 8.11.2019).
Epstein, David (2019) Range: How Generalists Triumph in a Specialized World. London: Macmillan.
Ferguson,