Strategie als Beruf. Maximilian Terhalle
Denken wird hier nicht auf militärisches reduziert. Aber es ist wichtig zu anzuerkennen, dass militärische Macht per se – basierend auf ökonomischen Gewicht und technologischer Innovationskraft – zwischenstaatlichen Beziehungen zugrunde liegt. Der Band hofft, somit einen Beitrag zu jener strategischen Kultur zu liefern, von der es sich Deutschland noch immer leistet, auf sie zu verzichten. Das heißt nicht, dass ein Land nicht mehrere außenpolitische Identitäten hat, inklusive einer pazifistischen. Es zeigt vielmehr, dass das souveräne Bestehen im machtpolitischen Wettbewerb internationaler Politik und dessen tatsächliche Beeinflussung ohne eine strategische Kultur global nicht realistisch ist. Erst dann wird verständlich, was der zu Anfang erwähnte, häufig belächelte Aufruf zur Verteidigung der eigenen Werte eigentlich bedeutet – und von den Deutschen in der Weltpolitik verlangt.10 Zumal in der gegenwärtigen Zeitenwende des Umbruchs der Weltordnung.
Drei Grundannahmen zur Natur der Weltpolitik
Erstens: Der traditionelle Kern des in Deutschland weitestgehend unbekannten Faches Strategic Studies zielt auf die Analyse des Einsatzes und der Formen militärischer Gewalt. Bereits hieran lässt sich in Umrissen erkennen, welchen weiten Weg die dem Gegenstand fernstehende universitäre Disziplin der Internationalen Beziehungen (in Deutschland) bis zur internationalen Normalität zu gehen hätte, bevor Einsatz und Formen solcher Gewalt überhaupt als Grundannahme für die weitere Diskussion genutzt werden könnte. Obgleich dieser Aspekt wesentlich ist, weil er das immer mögliche, konfrontative Element des strategischen Umfelds betrachtet, adoptiert dieser Band ein breiteres Grundverständnis von Strategie, als die Military Studies in den Strategic Studies dies tun (Biddle 2004).11 Er sieht sich damit in der Tradition des vor allem außerhalb Deutschlands sehr lebendigen Grand-Strategy-Ansatzes, wonach der Zweck von Strategie „…, in a broader [than military] sense, …, is the rational determination of a nation’s vital interests, the things that are essential to its security, its fundamental purposes in its relations with other nations, and its priorities with respects to goals“ (Craig/Gilbert 1986, 869). Und in der Tradition der breit angelegten War Studies mit ihrer Forschung u.a. über und zu Carl von Clausewitz (Heuser 2010; Strachan 2007; Herzberg-Rothe 2007; Clausewitz 1980), auf die zuletzt der französische Präsident in seiner Rede zur Abschreckungspolitik im Februar 2020 explizit verwiesen hatte (Macron 2020). Zentral ist dabei, dass Clausewitz Krieg immer als einem politischen Zweck dienend betrachtet, dass die Politik mithin das Primat der Entscheidung besitzt und entsprechend die lang- und kurzfristigen Ziele von Machtausübung vorgibt. Nirgends spricht Clausewitz von einer logischen Folge, die Krieg zur gängigen Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln macht. Er findet hierin alleine eine realistische Beschreibung, die die nicht friedliche Auflösung politischer Antagonismen zuweilen, aber nicht zwingend im Krieg sieht. Strategie ist deshalb ihrer Natur nach nie allein auf Kriege reduziert. Für ihn durchzieht strategisches Denken, unter Einbeziehung aller einem Staat zum Schutz seiner vitalen Interessen zur Verfügung stehenden Mittel, permanent die Gesamtheit aller internationalen Beziehungen eines Staates mit anderen. Militärische Macht charakterisiert dabei wesentlich alle staatlichen Beziehungen der internationalen Politik.
Kurz: Friedenszeiten gelten sowohl dem Erhalt des Friedens als auch immer dem so wachsamen wie geschickten Vorbereitetsein auf mögliche Kriege. Dies beinhaltet strategisch abzuleitende Aktivitäten zu Friedenszeiten, die zukünftig mögliche Versuche der Gewaltanwendung, Einschüchterung und Erpressung durch andere Akteure dauerhaft, oder zumindest so weit als möglich, frustriert. Dies gilt nicht minder für sub-threshold-Aktivitäten von Staaten im Cyberraum.12
Eine übergeordnete Einsicht aus der Betrachtung Clausewitzens liegt mithin darin, dass Staatslenkern, gerade weil ihnen die strategische Grundausrichtung und Entscheidungshoheit obliegen, immer Spielräume zum Handeln offenstehen trotz limitierender aber nie gänzlich unumgänglicher, struktureller Rahmenbedingungen. Vielmehr ist dies gerade der Platz, an dem der Stratege seine Wirkungsmacht entwickeln kann und muss (Freedman 2013, ix–xvi; Jervis 1997, 204–9).
Zweitens: Die Strategic Studies sehen internationale Politik ihrer Natur nach als antagonistisch an, sowohl in anthropologischer als auch systemischer Hinsicht. Das systemische Grundbedürfnis der militärisch stärksten Mächte einer historischen Episode besteht in dem Maß an Sicherheit, das die ihnen jeweils spezifische Lebensart und die dafür notwendigen Voraussetzungen in Gegenwart und Zukunft erhält. Die Sättigung dieses fundamentalen Bedürfnisses erfordert deshalb eine historisch seltene, von allen zentralen Akteuren perzipierte Zufriedenheit mit dem Status quo. Aus der Beobachtung heraus, dass einige den Status quo als benachteiligend empfinden, während andere ihre mithin zufriedenstellend-privilegierte Position herausgefordert sehen und darauf zielen, diese entweder defensiv zu erhalten oder vorhandene Vorteile weiter auszubauen, wird unschwer deutlich, dass dem Politischen – aus der Sicht des Strategen – Konflikte immanent sind. Gegenwärtig sehen wir die Auswirkungen des weltpolitischen Streits der Großmächte um den „grand bargain“, den die ‚Pax Americana‘ seit 1990/1 voraussetzte. Chinas Regime, das das Ende des Kalten Krieg im Gegensatz zur Sowjetunion überstand, trat bereits in den 1970er-Jahren in den weltpolitischen Orbit Amerikas und sieht sich jetzt in klar konturiertem Gegensatz zu den USA (Terhalle 2015, 2019; Little 2007; Gilpin 1981; Clark 2005).
Das systemische Grundbedürfnis eines Teils der Großmächte kann damit politisch nie garantiert, sondern höchstens historisch zeitweise befriedigt sein. Für die anderen (Parteien) gilt, dass sie ihre Grundbedürfnisse häufig durch die der ersten Gruppe als dauerhaft und inakzeptabel eingeschränkt betrachten. Das heißt nicht, dass permanent unmittelbare Kriegsgefahr herrschte. Strategischer Diplomatie steht ein Konvolut an Mitteln zur Verfügung, um aus diesen divergierenden Grundbedürfnissen keine Kriege entstehen zu lassen. Das Kriegsvermeidungsinteresse der Großmächte hängt jedoch von der Existenz und Dichte eines nicht-kodierten Normensatzes und von der Zustimmung der Großmächte dazu ab. Der strategische Kern dieser Divergenzen, vitale Sicherheitsinteressen, gepaart mit dem bestimmenden Machtanspruch eines Teils der Großmächte, der „die“ internationale Ordnung“ verteidigt, lässt jedoch erkennen, welche mögliche konfrontative Dynamik diesen Divergenzen innewohnt, zumal wenn die Dichte des Normensatzes und damit der Zustimmungsgrad nicht hoch sind (Bull 1977).13 Ungeachtet ungeschriebener diplomatischer Regeln und moderner völkerrechtlicher Streitschlichtung macht diese Logik die Einsetzung einer effektiven Schlichtungsinstanz, die die Sicherheit von Staaten im (erkennbar werdenden) Konfliktfall regeln könnte, unmöglich. Ein Blick auf die Funktion des VN-Sicherheitsrats genügt. Dieser widmet sich komplexen Fragen internationaler Sicherheit, wenn auch selten mit der erforderlichen Einigkeit. Seine immanente Grenze wird aber daran erkennbar, dass er einen möglichen Krieg zwischen zwei oder mehr ständigen Mitgliedern nicht adressieren kann.
Diese Hinweise müssen nun auf die analytische Frage hinführen: Wie gelingt die Formulierung des strategischen Zweckes deutscher und europäischer Sicherheitspolitik?14 Ein früherer Vorschlag ging dahin, deutsche Interessen zu definieren. Das ist vordergründig ein (semantischer) Schritt in die richtige Richtung. Deutsche Interessen definierend festzusetzen, bedeutet aber nicht, sie entsprechend auch um- und durchsetzen zu können.15 Angesichts des Gewichts der vorwaltenden Großmächten ist Deutschland dafür erkennbar und substanziell zu schwach. Und deshalb Mitglied der NATO – ein ehemaliger Bundeskanzler nannte die Allianz nicht zuletzt die Staatsräson Deutschlands.16 Die häufig angenommene, aus der Innenpolitik und dem Völkerrecht abgeleitete Vorstellung von der Gleichheit aller involvierten Akteure trifft in strategischen Fragen, wo ungleiche Machtgewichte konsequent zum jeweils eigenen Vorteil genutzt werden, nicht zu.17
Der strategischen Bestimmung des Zwecks deutscher Machtausübung muss vielmehr eine zentrale Überlegung vorausgehen: Wie ist das geopolitische Umfeld Deutschlands bestimmt, in dem Berlin