WIE SCHATTEN ÜBER TOTEM LAND. S. Craig Zahler

WIE SCHATTEN ÜBER TOTEM LAND - S. Craig Zahler


Скачать книгу
verdamme diesen dummen Idioten«, sagte Stevie.

      Long Clay durchquerte das Zimmer und öffnete die Schranktür. In der Kammer stand eine riesige, schwarze Reisetruhe aufrecht und wackelte.

      Der Revolverheld schlug mit dem Griff seiner Pistole aufs Holz. »Halt's Maul oder ich werd böse.«

      Der Mann in der Truhe wurde still.

      Brent sah zu seinem Vater. John Lawrence Plugfords hasserfüllter Blick versengte die Luft. Das ungegessene Lammkotelett fiel in die Sägespäne und die rechte Hand des riesigen Mannes landete klatschend auf dem Griff seiner abgesägten Schrotflinte.

      »J.L.«, warnte Patch-Up.

      Brent eilte zum Fenster, packte das rechte Handgelenk seines Vaters und sagte: »Lass los.«

      Long Clay stellte sich zwischen John Lawrence Plugford und die Truhe und zog einen Flachmann voll Bourbon aus seiner Gesäßtasche. Licht fiel auf das silberne Behältnis und funkelte in den wilden Augen des Patriarchen.

      »Beruhige dich«, sagte der Revolverheld.

      John Lawrence Plugford löste den Griff um seine abgesägte Schrotflinte, nahm den Flachmann von Long Clay, drehte den Verschluss auf und steckte die Öffnung in das Dickicht, das seinen verschwundenen Mund umgab. Er trank drei große Schlucke und richtete seinen Blick kurzerhand wieder auf den grauen Morgen. Wie es im letzten halben Jahr so oft der Fall gewesen war, hatte der riesige Patriarch nichts zu sagen.

      Patch-Up hob das heruntergefallene Lammkotelett auf, wischte die Sägespäne von seiner Oberfläche und wickelte es in ein Stück Wachspapier.

      Long Clay sah zu Brent und Stevie. »Leert die Truhe aus und bringt sie in den Wagen. Sofort.«

      Kapitel 4

       Eine Ballade für das treue Volk

      Humberto Calles ging auf den Galgen zu, der vor zwei Sommern in Nueva Vida errichtet worden war, mehr als fünfzig Jahre, nachdem das treue Volk des Landes den bleichen Texanern wertvolle mexikanische Morgen Land abgetreten hatte. Die Strafkonstruktion war ein sichtlich eindrucksvolles Symbol der Gerechtigkeit, das Schaulustige regelmäßig mit einem unterhaltsamen Spektakel versorgte, besonders wenn der erhängte Mann übermäßig lange zappelte oder aus Versehen von der Schlinge geköpft wurde.

      Der einsame Wanderer erreichte den Galgen, wischte sich Schweißperlen von der Stirn, bedecke seine kahle Kopfhaut mit einem Sombrero, erklomm die mit kunstvollen Fliesen dekorierten Stufen, die mit Sicherheit dem Auge eines jeden zum Tode verurteilten Ästheten schmeichelten, und stieg zu einem leeren, grauen Himmel hinauf. Von seiner Kletterpartie außer Atem schritt der vierundfünfzigjährige Mexikaner über die Plattform zum Geländer.

      Von der Bühne des Todes aus fragte Humberto die Schaulustigen, ob sie ein Lied hören wollten.

      »¡Por favor!«, riefen acht der vierundzwanzig Menschen unter ihm. Humberto betrachtete die Versammlung, um zu sehen, ob Stadtbedienstete zugegen waren – sie mochten es nicht, wenn ihr seriöses Bauwerk für nicht tödliche Unterhaltung genutzt wurde –, entdeckte aber niemanden, der ihm Schwierigkeiten bereiten könnte.

      Während er die vier über die edelsteinverzierten Bünde seiner blauen Guitarrita gespannten Saiten stimmte, musterte der Balladensänger die Menge. Die Versammlung bestand aus gemächlichen Menschen – Näherinnen, Bauern und alten Männern –, und so beschloss Humberto, ein langes und melancholisches Lied zu spielen, das an ihrem Mitgefühl rühren würde. Er griff einen Akkord auf dem glasierten Gitarrenhals und zupfte die Saiten kräftig mit den dicken Nägeln, die aus den Fingerspitzen seiner rechten Hand ragten. Über diesem steten Arpeggio musikalischer Regentropfen stellte Humberto die Komposition vor, eine Ballade namens »Unter den Kieselsteinen«, die die wahre Geschichte eines Mannes erzählte, der vor mehr als fünfzig Jahren im Krieg gegen die bleichen Texaner gekämpft hatte. Einen satten, übermäßigen Akkord anstimmend begann Humberto zu singen.

      Schwarze Wolken ergossen sich auf ein kleines Bauerndorf in Mexiko. In einem Adobenhaus, das erst drei Jahreszeiten alt war, verabschiedete sich ein Mann namens Alexzander von seiner Frau, Gabrielle, die mit ihrem ersten Kind schwanger war. Der Fünfundzwanzigjährige bedauerte es zutiefst, seine Liebste verlassen zu müssen, aber der Krieg gegen die bleichen Texaner lief schlecht und er musste dafür sorgen, dass das treue Volk des Landes behielt, was ihm rechtmäßig gehörte. Gabrielle weinte.

      Humberto spiele vereinzelte, hohe Noten im pizzicato auf der dünnsten Saite seiner Guitarrita.

      Trotz ihrer Traurigkeit protestierte die selbstlose Mexikanerin nicht gegen die Abreise ihres Ehemannes, denn sie wusste, dass er seine Pflicht erfüllen musste. Sie küssten sich.

      Humberto bildete zwei Melodien, die zu einer einheitlichen Tonfolge wurden – der Refrain ihrer Liebe.

      Von vier seiner Jugendfreunde begleitet verließ Alexzander die kleine Stadt, reiste nach Norden und schloss sich einem angeschlagenen Regiment an, das sein Lager auf einer Hacienda in Tejas errichtet hatte, die vor Kurzem von der mexikanischen Armee eingenommen worden war. Die Gringos hatten zwei entscheidende Schlachten in der umliegenden Gegend gewonnen und Alexzanders Vorgesetzter, El Capitán Jesus Garcia, wusste, dass ein unorthodoxes Manöver vonnöten war, um die Texaner zu besiegen.

      Der Plan des Offiziers war einfach. Alexzander und seine Jugendfreunde sollten sich in einem Bergpass verstecken, durch den die feindlichen Boten ritten, und die Nachrichtenüberbringer abschlachten, bevor sie je das texanische Fort erreichten. Alexzander, ein gebildeter Mann, der sowohl Englisch als auch Spanisch lesen und schreiben konnte, würde die Dokumente so abändern, dass es dem treuen Volk des Landes zugutekam, und die überarbeiteten Sendschreiben wieder den Leichen der Gringos zustecken, damit das Fort sie fand. Die Soldaten bezweifelten, dass sie es schaffen würden, ihre Mission zu erfüllen, aber der Krieg neigte sich dem Ende zu und solche verzweifelten Schachzüge waren alltäglich.

      Humberto spielte zweimal eine langsam absteigende Melodie, die den sinkenden Mut Mexikos darstellte.

      Am Tag bevor die Einheit aufbrechen sollte, erhielt Alexzander einen eine Woche alten Brief von Gabrielle, in dem sie ihn davon in Kenntnis setzte, dass sie eine Fehlgeburt erlitten hatte. Sie hatte den winzigen Jungen in einen Schal gewickelt, hinten im Garten neben dem Teich begraben und das Grab mit glatten Kieselsteinen geschmückt, die sie vom Grund des Baches geholt hatte, in dem sie und Alexzander einst im Halbdunkel gestanden und ihren ersten Kuss geteilt hatten.

      Humberto spielte die Melodie ihrer Liebe.

      Alexzander bat Capitán Jesus Garcia, ihm einen zweitägigen Fronturlaub zu gewähren. Der betrübte Soldat hoffte, nach Süden in sein Dorf zu reiten, seine trauernde Ehefrau zu trösten und ein weiteres Kind zu zeugen, ehe er seine verzweifelte und aussichtslose Mission antrat. Der hochrangigere Offizier erwartete, dass ein Trupp texanischer Boten in naher Zukunft durch den Pass kommen würde, und lehnte das Ersuchen ab.

      Der Balladensänger schlug heftig in die Saiten seiner Guitarrita und dämpfte sie dann. Unter der Galgenplattform standen siebenundzwanzig Zuschauer, von denen sich jeder eine persönliche und eindeutige Version der Geschichte, die er erzählte, ausmalte.

      Alexzander schickte seiner Frau einen Brief, in welchem er sie darum bat, nach Norden zu reiten und sich in der verlassenen Scheune zu verstecken, die am östlichsten Rand der Hacienda stand. Er wusste, dass sie dieses Schreiben frühestens in sechs Tagen erhalten würde.

      Humberto schwang seine langen Fingernägel und beschleunigte das Lied.

      Alexzander und seine vier Freunde begaben sich zu dem Pass, in dem sie den texanischen Boten auflauern würden. In einem primitiven Unterstand versteckte sich das Quintett und wartete. Zwei Wochen später kamen die texanischen Boten durch den Hohlweg – eine Gruppe von dreißig bleichen Gringos.

      Der Balladensänger schlug wilde Triolen an; die Menge der einunddreißig Menschen war reglos und still.

      Obwohl zahlenmäßig sechs zu eins unterlegen, griff Alexzanders


Скачать книгу