Der Selbstmörder. Paul Blumenreich

Der Selbstmörder - Paul Blumenreich


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auf das dunkle Geheimnis, das Karls Verschwinden verhüllte.

      Josepha tat es mit ruhiger Seele, nur daß sie Karl warm und innig beklagte, aber ihr Gewissen war rein, sie hatte nichts getan, um ihn in den Tod zu treiben; im Gegenteil, ihr sanfter Einfluß hatte ihn zu einer geregelten Lebensweise vermocht. Wenn er ihr entglitten war in das undurchdringliche Dunkel des Todes, so war es, weil er ihr gar nicht so ganz gehört hatte. Es war noch etwas in seinem Leben, worauf sie keinen Einfluß besaß, und dieses unbekannte Etwas entriß ihn ihr. Sie fühlte nur noch die Pflicht, ihn zu betrauern, aber sie war ergeben in das Schicksal, das sie um ihn betrogen.

      Er war tot; ohne Zweifel war er als nicht rekognoszierter Selbstmörder irgendwo begraben worden. Aber auch das war noch gut zu machen, man würde ihm auch noch sein anständiges Familiengrab sichern können, dem armen, einst so heiteren, lebenslustigen Karl.

      Josepha flüsterte jetzt dem Vater etwas zu, und dieser wandte sich wieder an den jungen Mann.

      »Sie sind ja, wie ich höre, ganz fremd hier; vielleicht beliebt es Ihnen, heute mit uns zu speisen und meine Familie kennen zu lernen. Bei mir herrscht noch ein altfränkisches, patriarchalisches Verhältnis; ich mag mich in die neue Zeit nicht finden, in welcher Herr und Diener einander fremd geworden sind.«

      Armin Bode nahm vor Freude errötend an. Zwar der alte Hilmar sagte sich, es sei zu viel Entgegenkommen; aber Josepha hatte den Wunsch geäußert, und er legte sich gar nicht Rechenschaft ab, warum dies geschehen. Das arme Mädchen brauchte eben Zerstreuung.

      So erschien Armin Bode also wieder zu Tisch; wieder musterhaft gekleidet, doch anders als Karl. Denn dieser war immer gerne Großstädter gewesen, Armin sah man den wohlhabenden Provinzler deutlich an. Er kontrastierte in seiner Erscheinung wirkungsvoll mit Josepha, sie gaben gleich auf den ersten Blick ein sogenanntes passendes Paar. Josepha war eine sehr schlanke Brünette mit schönem, blassem, ruhigem Gesicht, mit sanftem, schüchternem Wesen, überaus zärtlich gegen ihre Eltern, eine rechte Schlingpflanzennatur. In Herrengesellschaft war sie scheu und dafür wenig empfänglich, daher hatte sie sich so leicht von ihren Eltern bewegen lassen, sich mit Karl zu verloben, weil ihr Herz noch so ganz unberührt war. Wer er hatte sie doch erschreckt mit seinem ungleichen, excentrischen Wesen, seinen Ausfällen gegen Welt und Menschen, seinen fortwährend wechselnden Stimmungen. Armin Bode dagegen verstand es sofort, ihr Vertrauen zu gewinnen, so abenteuerlich ihre Bekanntschaft auch geschlossen war. Er hatte den Typus des deutschen Landwehrmanns: groß, stark, blondbärtig, mit treuherzigen blauen Augen, mit sonorer Stimme, ruhig, würdevoll, gemessen, voll Ehrfurcht gegen Damen, loyal gegen seinesgleichen, und im ersten Augenblicke, da sie seine Stimme gehört, glaubte sie ihm, glaubte mit jener instinktiven Eingebung, welche meist der Anfang der Liebe ist. In den Schauern, welche ihr das geheimnisvolle Verschwinden Karls verursachte, in der dumpfen Trauer ihrer gegenwärtigen Existenz, verlieh ihr das Erscheinen Armins Trost und Zuversicht.

      Das Mädchen hatte gedeckt wie gewöhnlich. Die drei anderen nahmen ihre gewohnten Plätze ein, ohne weiter nachzudenken, und so kam Armin, ohne es zu wissen, auf den Platz, welchen bis dahin Karl eingenommen hatte.

      Als er nun hier saß, sahen die andern einander unwillkürlich an; Karls Platz war besetzt. Aber Armin vermied es, von dem Verschollenen zu sprechen. Er stellte Fragen über das Geschäft und die Beziehungen der Firma, soweit ihm solche Fragen zustanden; leise wagte er es auch, von den Gewohnheiten der Familie zu sprechen.

      Aber sie waren alle ernst gestimmt, und bei der Suppe – es gab vortreffliche Mocturtle – rief Frau Hilmar:

      »Es war Karls Lieblingssuppe!«

      Eine tiefe Stille trat in dem kleinen Kreise ein, dann sagte Armin:

      »Vielleicht ist sie es noch, wird es immer sein.«

      Josepha senkte den Blick. Sie nahm nur eine wohlgemeinte, freundliche Lüge an und ging nicht darauf ein.

      Alle Speisen waren gleich vortrefflich. So sehr aber Armin bemüht war, das Gespräch abzulenken, er konnte Frau Hilmar nicht abbringen von ihren Erinnerungen. Bei jedem Gange erzählte sie etwas von Karl. Bald sagte sie:

      »Es ist noch nicht vierzehn Tage her, daß mich Karl um Rebhuhn gebeten« – bald wiederum, als Armin sich Kompott auftat, bemerkte sie:

      »Karl mochte kein Kompott zum Braten; er pflegte es später zu essen.«

      Und Armin, der mit Appetit sich zu Tische gesetzt hatte und schließlich ja mit Freuden gekommen war, konnte kaum mehr essen. Er sah das blasse Gesicht des Verschollenen an dem Tische mit überwältigender Deutlichkeit, wie seine Mienen sich verzerrten, seine Augen sich verdrehten, wie er ächzte, wie er mühselig die Worte hauchte, – mit erschreckender Deutlichkeit stand das alles vor ihm. Bisweilen spiegelte ihm seine gehetzte Phantasie vor, daß er, Armin, der Mörder sei; er hätte doch bei ihm bleiben, sich überzeugen sollen, ob er tot, ob nicht nur eine Ohnmacht ihn angewandelt hatte.

      »Nach Tische spielten sie immer vierhändig,« sagte Frau Hilmar.

      »Ich spiele auch,« antwortete der Gast schwer atmend. »Wenn das Fräulein befehlen?«

      »Ach, das ist schön!« rief Josepha aus. »So wollen wir spielen; Mama fehlt es immer. Sie schlief nach Tische darüber ein.«

      Natürlich waren nur die Noten zur Hand, welche die jungen Leute damals gespielt hatten. Nun saßen sie zusammen am Klavier. Er fand sich wundervoll in ihre Weise, spielte vom Blatt, fügte sich ihr mit gutem Verständnis.

      Frau Hilmar sah mit großen Augen drein. Sollte das ein Wink des Himmels sein, der ihnen diesen jungen Mann schickte? – Oder war es nicht Sünde, daß man ihn aufnahm, während man noch gar nicht wußte, ob Karl tot war oder nicht? – Sie liebte die Musik, freute sich der schönen Klänge, aber ihr Herz preßte sich zusammen, sie konnte heute nicht einduseln. –

      Vier Wochen waren vergangen; noch immer keine Kunde von Karl, keine Spur, kein Lebenszeichen. Jeden Tag sah man spannungsvoll in die Zeitungen und in die eingelaufene Post, frug auch einmal bei der Polizei nach, aber Karl war spurlos verschollen.

      Indessen war die Probezeit für Armin abgelaufen, der Quartalsbeginn stand vor der Tür, es war der normale Zeitpunkt für einen festen Kontrakt. Noch immer empfand der alte Hilmar etwas wie Verlegenheit. Sein pedantisches Gewissen sträubte sich dagegen. Sein Neffe konnte doch noch leben, wer wußte es? – Noch immer war er nicht amtlich tot erklärt, ja es war noch nicht einmal ein darauf hinzielender Antrag möglich geworden, weil ja jeder Anhalt, jede Spur fehlte. Andererseits gefiel ihm der junge Mann, denn Armin verstand sein Geschäft. Vielleicht war er nicht so vielseitig begabt wie Karl, aber er war stetiger, fleißiger, verläßlicher. Ueberraschend schnell hatte er sich in alles gefunden, war stets mit ganzer Seele der Arbeit hingegeben; mit einer Art von Spürsinn hatte er die Tätigkeit seines Vorgängers erfaßt, es war, als wäre er unter der Leitung Hilmars groß geworden, sozusagen Geist von seinem Geiste. Vor allem war Armin Bode, was Karl niemals gewesen, die Pünktlichkeit selbst. Ruhig erschien er, mit bescheidenem Gruß, und setzte sich an die Arbeit. Man hätte aus seiner gemessenen Haltung schließen können, daß ihm diese Arbeit sehr gleichgiltig; aber bei jedem Anlaß verriet er, wie sehr er innerlich bei der Sache war; ja, er sorgte und dachte an Stelle des Chefs, und dieser konnte nicht umhin auszurufen:

      »Nein, wenn man solchen Buchhalter hat, so ist es leicht, Chef zu sein.«

      Armin Bode errötete vor Vergnügen.

      »Ich stehe ja ganz allein in der Welt und habe kein Ziel als Ihre Zufriedenheit.«

      Es schien wirklich, daß er die Wahrheit sprach. Die Großstadt schien keine Verlockungen zu haben für den jungen Mann, und die Alten sagten sich:

      »Wir haben einen Treffer gemacht.«

      Und Josepha durfte behaupten:

      »Er ist ein Ideal,« ohne daß die Eltern widersprachen.

      Warum Armin Bode so ganz blind war für die Reize der Großstadt? – Es ahnte niemand, was der wahre Grund. Es war die Erinnerung an den Sterbenden, die ihm unaufhörlich vorschwebte.

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