Der Selbstmörder. Paul Blumenreich
von einem neuen Schlaganfall betroffen worden. Der Arzt hatte ihr gestern gestattet, Kaffee zu trinken, und sie hatte sich so sehr gefreut darüber. Da fiel sie auf einmal vom Stuhl. Pauline kam eben recht, ihr die Augen zuzudrücken.
Das gab einen ungeheuren Aufruhr in der kleinen Häuslichkeit. Die winzige Barschaft, welche die Tante hinterließ, würde kaum für die Beerdigung hinreichen. Man hatte sich in letzter Zeit mancherlei Mehrkosten auferlegen müssen, immer im stillen auf die Erbschaft hoffend. Das Testament war gerichtlich deponiert, im Hause fand sich nur etwas Schmuck und ein kleines Sparkassenbuch. Dennoch raffte die Familie alles zusammen; man wollte sie doch anständig zur Ruhe bringen.
Am Tage darauf fand die Testamentseröffnung statt. Es war eine höchst umständliche Verfügung, man hätte glauben sollen, es handle sich wirklich um eine nennenswerte Hinterlassenschaft. Aber schließlich war es nichts, so gut wie nichts, die Tante hatte ihre Angehörigen nicht enterbt, aber sie hatte auch nichts zu vererben als Schmuck, Wäsche, Kleider, Möbel und jenes Sparkassenbuch.
Natürlich kam das alles der Familie sehr zu statten, das Büchlein deckte auch reichlich die Kosten, aber von einer Erbschaft konnte eben nicht die Rede sein. Die großen Hoffnungen der Familie waren vernichtet, die Tante hatte nichts erspart, oder das Ersparte auf irgend eine törichte Weise verloren, deren sie sich geschämt. Genug, es war nichts.
Man wollte nun die Stube an einen Herrn vermieten, es wurde alles geräumt. Nach der Testamentsverfügung fiel ein Teil des baren Geldes der Mutter zu, der Schmuck Paulinen, den Jungen allerlei Kleinigkeiten; Möbel und Wäsche sollten alle zusammen haben, so hatte die Tante höchst gewissenhaft disponiert.
Am folgenden Sonntage begann man zu räumen. Die Mutter war bald getröstet; es zeigte sich, die Betten waren schön leicht, lauter Daunen, vortreffliche Bezüge, die Möbel zwar altmodisch, aber dauerhaft, und aus den altfränkischen Kleidern würde noch mancherlei zurecht gemacht werden können. Die Jungen machten sich über den alten Kram her, Bücher, Kuriosa, Erinnerungsstücke. Walter bekam sozusagen den Abhub, Muschelchen, Riechfläschchen und was dergleichen zu Tage kam; aber er freute sich nach Kinderart.
Von der Wäsche sollte etwas verwahrt werden für Paulinens Aussteuer, meinte die Mutter. Pauline lächelte schmerzlich, aber die Mutter sagte, das Kaufen würde immer schwer gehen.
»Und da, sieh, ein wattierter Rock, noch fast neu!« – Es war der rote Rock, von dem die Tante gesprochen; und nun pochte Pauline das Herz. »Den kannst Du Dir behalten,« sagte die Mutter; »mich würde er zu dick machen, Dir wird er im Winter an der zugigen Kasse sehr gut zu statten kommen.«
»Gut, Mamachen,« sagte das Mädchen. Mit einemmale erinnerte sich Pauline an jene Nacht, an die geheimnisvollen Worte der Tante, an ihren leuchtenden Blick. Wenn die die Frau wirklich eingesehen hatte, daß Pauline eine Belohnung um sie verdient hatte! – Und versteckten alte Leute nicht oft ihr Geld in dieser Weise? –
Sie legte den Rock in ihren Schrank. Der Mutter wollte sie keine vorzeitigen Hoffnungen machen und sie nahm sich vor, abends, wenn alles schlief, den Rock zu untersuchen.
*
War er tot? –
O, wenn Armin dieser Frage hätte entrinnen können, wenn er wüßte, ob jener tot! – Und doch, war es nicht sündhaft, seinen Tod zu wünschen? – Und wiederum, sein, Armins ganzes Lebensglück beruhte darauf, daß jener nicht mehr unter den Lebenden weilte. Aber in streng christlichen Grundsätzen erzogen, sträubte sich sein Gewissen, den Tod des anderen zu wünschen.
Armins Blick versuchte vergeblich, das finstere Dunkel dieses Geheimnisses zu durchdringen. Einen Augenblick fiel ein Lichtstrahl, als man einen Diebstahl zu bemerken glaubte; aber das war jemand anders gewesen, jenes blonde Mädchen an der Kasse, welches er eigentlich noch nicht gesehen und an deren Schicksal er kein Interesse nahm, denn er sah nur Josepha. Das Mädchen mit dem schönen, blassen Gesicht, den dunklen Augen, dem jungfräulich keuschen und doch hingebenden Wesen hatte seine ganze Seele gefangen genommen.
Jener Augenblick, da sie, wenn auch durch einen Irrtum, an seiner Brust lag, war entscheidend gewesen für seine ganze Existenz. Eine überirdische Seligkeit, ein Fortgerissenwerden, eine glühende Hingebung, wie er sie bisher nicht kannte, ein einziger Wunsch, eine einzige lodernde Flamme erfüllte ihn: Josepha nahe zu sein.
Am Morgen nach jenem Abende, da er Josepha gesehen, hatte er sich zu dem großen Gange gerüstet. Nie sonst in seinem Leben hatte er Aehnliches gewagt: Die Erbschaft eines Mannes anzutreten, der vielleicht nicht tot war, seiner Braut sich zu nähern, ihre Liebe zu begehren. Aber er konnte nicht anders, denn er mußte in Josephas Nähe bleiben, er mußte tun, was sie wünschte: und so suchte er seinen schwarzen Anzug, seine Papiere hervor, und machte sich auf den Weg zu Hilmar.
Es war ihm elend zu Mute, und doch war er voll überseliger Hoffnungen für die Zukunft; er zitterte und bebte – und doch, er stand vor dem Hause, wo sie wohnte, vor dem Hause ihrer Eltern. Welch' beglückende Vorstellung!
Herr Hilmar nahm ihn für nichts als einen Stellensucher. Er fand sein Erscheinen durchaus natürlich; der Unfall war von den Zeitungen gemeldet, auch wohl in den beteiligten Kreisen bekannt geworden: Vielleicht schmeichelte es ihm sogar, daß man sich, noch bevor er jemanden suchte, an ihn wandte.
Auf die korrekt vorgetragene Bewerbung Armins antwortete er:
»Sie kommen eigentlich zu früh. Noch habe ich keine offizielle Nachricht von dem Tode meines Neffen, noch hoffen wir. Vielleicht hat nur ein Zufall ihn verhindert, zurückzukehren.«
»Selbstverständlich würde ich zurücktreten,« beeilte sich Armin zu versichern, »wenn Ihr Herr Neffe wiederkäme. Ich würde es mit Freuden tun, wenn ich sähe, daß ein schweres Unglück von einer ehrenwerten Familie abgewendet wird.«
Das war freilich eine Phrase, aber sie gefiel dem alten Herrn.
»Ich könnte Ihnen allerdings,« entschied er, »für heute keinen dauernden Vertrag anbieten; wollen Sie es mit einer Probe versuchen und auf die Eventualität, auf welche ich noch immer hoffe, gefaßt sein, so steht dem nichts im Wege. Mir fehlt eine tüchtige Arbeitskraft, ich bin jetzt ganz gebrochen, die Bücher sind in Unordnung geraten, und da harrt Ihrer ein großes Stück Arbeit. Wie ich aber aus Ihren Papieren ersehe, kann in an Ihnen ein solches wohl zumuten. Also meinetwegen!«
Armin erklärte sich mit Vergnügen zu jedem Versuche bereit; mit einigen Worten war die Gehaltsfrage erledigt handelte es sich doch für Armin um nichts als einen Anfang – und Armin Bode wurde engagiert. Morgen früh sollte er in die Stellung des Verschollenen eintreten.
Es war, als träumte er. Nicht seine kühnsten Träume hatten ihm so schnelle Erfüllung seiner Wünsche vorgespiegelt. Nicht nur eine Stellung war gefunden, nein, auch Josepha lächelte ihm zu.
Da trat sie eben in das Comptoir, und ihr Blick begegnete verständnisinnig dem seinen. Sie frug ohne Worte, ob der Vater einverstanden, und er zwinkerte mit den Augen: Ja! – und in diesem Augenblicke schwanden alle seine Bedenken.
Aber schon in der nächsten Minute kamen sie wieder. Weshalb log er? – Josepha war freilich ängstlich, ihren Eltern zu verraten, daß sie abends mit einem Fremden zusammengetroffen. Aber es war doch zu einem guten Zwecke geschehen.
In ihrer Abwesenheit nahm er sich vor, dem Vater die Sache zu erklären. Warum tat er es nicht? – Weil er dadurch die Basis zu seiner Existenz im Hause zerstört hätte. Man hätte dem Verschwundenen von neuem nachgeforscht, auf neuer Grundlage. Auch Josepha wußte ja nicht die ganze Wahrheit. In der ersten Aufregung hatte er ihr verschwiegen, daß er noch einmal umgekehrt war, und den Schwerverwundeten nicht mehr gefunden hatte.
Josepha zweifelte nicht daran, daß er tot war. Es waren seine letzten Worte gewesen, die Armin ihr hinterbrachte, und weil sie diese für die letzten hielt, waren sie ihr heilig wie ein Schicksal. Karl selbst hatte sie an den Mann gewiesen, den sie zu lieben bereit und im Begriffe war. Ihrem zur Romantik geneigten Sinn war er wie ein Bote aus einer andern Welt erschienen. Allerdings, auch sie hatte den Eltern nicht gesagt, daß Karl sich erschossen. Es sollte erst Armin festen Fuß im Hause fassen, dann würden sie die traurige Gewißheit leichter tragen.