Der Selbstmörder. Paul Blumenreich
Hilfe herbeirufen? – Es war so still und einsam hier, woher Hilfe nehmen? – Oder sollte er selbst –? Aber wie?
Er preßte sein Taschentuch auf die Schläfe des Fremden, eine ganze Weile hindurch; plötzlich schlug der junge Mann die Augen auf, seufzte und lächelte schwach, wie geistesabwesend. Dann murmelte er:
»Da – der Ring, – bitte gleich – rasch – Josepha – Luisendenkmal – gleich –«
Er streckte Arnim die Hand hin. Da steckte ganz lose ein schmaler Reif mit einem Türkis, ein bescheidenes Ringlein. Noch einmal murmelte der Sterbende:
»Nur rasch!«
Arnim nahm, sinnlos vor Aufregung, den Ring und stürzte davon. Er überlegte nichts, er wußte nur, es gab ein Luisendenkmal im Tiergarten, und dort wartete Josepha; er mußte sie rufen.
Wie ein Verzweifelter stürzte er irgend einen Weg entlang, blindlings, sinnlos; er wollte ja Josepha rufen. Dann blieb er plötzlich auf einem einsamen Pfade stehen. Was wollte er eigentlich? – Er konnte eine Stunde umherirren, bevor er das Luisendenkmal fand. Und war Josepha auch dort? – Und würde sie ihm folgen? – Was um Gottes willen sollte er ihr sagen? – Welch ein Narr er war! – Aber was sollte er tun?
Da stand er nun völlig ratlos. Der Abendwind rauschte in den Bäumen, und aus weiter Ferne hörte man die Züge der Stadtbahn donnern, die Equipagen der Tiergartenvillen dahinrollen. Greifbar nahe toste um ihn das Treiben der Hauptstadt, greifbar nahe und doch ihm unerreichbar.
Plötzlich erschrak er über seine eigene Torheit. Wie konnte er den Sterbenden, den mindestens schwer Verwundeten verlassen, um einem Phantom nachzujagen, einer romantischen Grille, dem unklaren Wink eines fast Bewußtlosen? – Er hätte nichts weiter tun müssen, tun dürfen als Hilfe bringen. Gewiß, der Park war nicht so einsam als es schien; man brauchte nur einigemale laut um Hilfe zu rufen, und sie wäre dagewesen.
Er kehrte um, fand sich nicht gleich zurück. Nun lief er in wachsender Angst, schweißgebadet hin und her. Da endlich, da war die Stelle: ja, er erkannte sofort den mächtigen Stamm hinter dem leichten Gebüsch, – aber nein – hier war ja niemand, – alles leer und still. – Hier war's nicht gewesen. – Aber wo sonst? – Trieb ein böser Dämon sein Spiel mit ihm?« –
Und doch, hier muß es recht sein. Da lag sein zerknilltes, blutiges Taschentuch, da war auch auf dem Grase ein schauerlich dunkler Fleck, eine kleine Blutlache. Der Sterbende war fort. Ohne Zweifel hatten auch andere den Schuß gehört und waren herbeigeeilt: sie hatten ihn fortgetragen. War er tot? –
Am andern Morgen vermeinte Arnim es geträumt zu haben, aber genau wie er es oft in verschiedenen Dichtungen gelesen, z. B. im »Stillen Dorf« von Baumbach: das Türkisenringlein erinnerte ihn an die volle Wirklichkeit. Dennoch wandelte er umher wie ein Träumender. Das Bild des Selbstmörders schwebte ihm vor, das bleiche Gesicht mit der blutenden Wunde an der Stirnseite. Unaufhörlich wiederholte er sich die wenigen Worte des Selbstmörders. Der Selbstmörder – das war das Band, welches ihn nun mit der ihm so fremden Außenwelt verknüpfte.
Und Josepha? – Das arme Kind hatte mit schwerem Herzen gewartet und gewartet auf ihn, und er kam nicht, er war ihr entflohen in die Ewigkeit.
Mit äußerster Spannung erwartete Armin die Abendblätter. Sie erhielten nichts von dem Fall, obwohl heute eine ganze Serie von Selbstmorden verzeichnet waren, merkwürdigerweise kein einziger Erschießungsfall. Auch nicht die Zeitungen der folgenden Tage brachten eine Nachricht, welche auf den Vorfall hätte angewendet werden können, und die Tageschronik nahm doch sonst so pünktlich Notiz von derartigen Unglücksfällen; es hätte dieser ihr unmöglich entgehen können. Der Tiergarten liegt niemals so still und einsam, wie es ihm zu jener Zeit erschienen war. Wer immer den Selbstmörder gefunden hatte, der mußte sich doch an die Polizei wenden; es mußte etwas verlauten. Aber es drang nichts an die Oeffentlichkeit. Zu sonderbar! Wie ging das zu? – Wirklich nur ein Traum? – Aber der Ring war da, der fremde Ring, der eine unbekannte Leidensgeschichte umschloß. – Tag und Nacht grübelte er darüber; der Ring indessen blieb stumm, stumm.
Das einzig Korrekte wäre gewesen, den Ring bei der Polizei zu hinterlegen; aber dann erhielt ihn »Josepha« wohl niemals. Wie sollte sie auch auf den Gedanken kommen? – Diese formale Ehrlichkeit wäre diesmal Unehrlichkeit gewesen. Er mußte die Mission des Sterbenden erfüllen und er wollte es auch gern. Nun hatte er um jemanden zu sorgen, an jemand zu denken, an »Josepha«. In seinem kleinen, kahlen Hotelzimmer, auf seinen Wegen durch die fremden Straßen dachte er an Josepha. Sie war jung und hübsch, und sie war geliebt worden. Er, Armin, ersann sich Roman um Roman. – Und er sollte ihr den Ring bringen. Durfte er den Ring und was daran hing, nicht als sein Erbe betrachten? – Würde Josepha ihn nicht lieben können? –
Er suchte in den Straßen ein junges Mädchen mit ernster, kummervoller Miene, vielleicht war es Josepha; er wollte dann auf sie zutreten, ihr fragend die Hand mit dem Ringe reichen. Aber alle jungen Mädchen lachten oder lächelten. Endlich schalt er sich einen Narren.
Dann fiel ihm ein Ausweg ein, das Luisendenkmal. – Vielleicht hatte Josepha an jenem Abende dort gewartet. – Er war nach mühseligem Suchen neulich zum ersten Male dort gewesen, aber er fand niemanden. Sie war längst fort, wenn sie überhaupt dagewesen. – Aber gewiß, es war dies ein Rendezvousplatz, es war auch derjenige, von dem der Sterbende gesprochen. Und nun wählte er dieselbe Stunde, das Denkmal aufzusuchen, gegen neun Uhr abends. Aber alles blieb vergeblich.
Stundenlang promenierte er zwischen den beiden weißen Marmorbildern einher. Abend für Abend, jede vorübergehende Dame scharf beobachtend, und bald mußte er sehen, daß die eine sehr bald von einem Wartenden in Empfang genommen wurde, die andere eilig den Platz kreuzte, offenbar ohne auf irgend eine Begegnung zu rechnen.
Endlich faßte er einen Entschluß; er setzte ein Zeitungsinserat auf: »Josepha, komm heute abend gegen neun Uhr zum Luisendenkmal.« – Es war ein Betrug, denn wahrscheinlich würde sie auf »ihn« raten, auf den Gestorbenen. Sie wußte wohl heute noch nichts von seinem Tode. Aber ein frommer Betrug war es. Auf diesen Ruf würde sie kommen, und er würde sich seiner Pflicht, seines stumm gegebenen Versprechens entledigen können.
Und nun hatte er eine Aufgabe, nun hatte er einen Zusammenhang mit der Menschheit. Er wartete jeden Abend am Luisendenkmal, den Türkisenring am Finger; eine traurige Mission freilich, aber er wartete doch auf jemanden, und zwischen den vielen fremden Menschen schien er sich nicht mehr so verlassen wie zuvor. –
Freilich, Josepha kam nicht. Er umschritt das Denkmal wieder und wieder, schon hätte er jede Linie desselben aus dem Kopfe zeichnen können; er studierte die Muster und Blumenflora hinter dem Gitter, er kannte jede Blume, er befreundete sich mit dem Ziergesträuch und trieb so sein Spiel. Damen allein kamen jetzt, wo der Winter nahte, nur noch selten, entweder schüchterne, die schnell vorüberhuschten, oder man sah es, sie schritten auf einen bestimmten Punkt zu, auf dem sie jemand erwartete, oder endlich kecke, Abenteuer suchende Damen, die nicht Josepha waren. Keine war Josepha, und er ging trauernd nach Hause in sein Hotel, vier Treppen hoch in das kahle, kleine Zimmer, und sein Herz jammerte.
Er war sparsam, dennoch erschien die Zeitungsannonce täglich und verschlang Unsummen. Er wußte nichts anderes und Josepha mußte er finden.
Eines Abends – der dritte oder vierte war es, den er in diesem Monat hier verlebte, – der Himmel war bedeckt, es dunkelte bereits früh, und es war recht einsam um das Denkmal, er stand im tiefen Schatten eines Baumes, da kam zaghaften Schrittes eine tiefverschleierte, dunkelgekleidete Frauengestalt daher. Sie blieb vor dem Denkmal stehen und schien es zu betrachten. Aber es war schon zu dunkel, und sie sah auch nicht hinauf nach dem schönen Königsbilde. Leise und zaghaft frug er:
»Fräulein Josepha, sind Sie's?«
Sie blieb stehen, erwiderte fast zitternd:
»Ja,