Der Selbstmörder. Paul Blumenreich
ihr Ziel verfehlt hatten. Er kam ja sonst nach Hause, wenn auch noch so spät, und während die Eltern unruhig und ärgerlich dasaßen, zur gewohnten Stunde nicht zu Bett gehen wollten, blickte sie gleichmütig drein aus ihrem schönen, gelassenen Gesichtchen, in ihrer ruhigen, musterhaften Haltung: Er würde schon kommen! –
Aber er kam nicht, kam nicht.
Als es Mitternacht geworden, riet sie den Eltern, zur Ruhe zu gehen. Es kostete sie einen Entschluß, zu verraten, daß er schon manchmal des Nachts fortgeblieben, es hätte auch wohl heute nichts damit zu bedeuten. Im ersten Augenblicke waren die Eltern entrüstet über Karl, über Josepha, die gewissermaßen sein Verhalten beschönigte, aber sie waren doch auch andererseits beruhigt und gingen in ihr Schlafzimmer. Auch Josepha suchte die Ruhe. Bald darauf glaubte sie Karls Schritt zu hören, und so schlief sie ein.
Schon um sechs Uhr stand der Papa auf, eine Stunde früher als sonst verließ er sein Schlafzimmer und begab sich hinauf in Karls Zimmer. Bleich und verstört kehrte er zurück: Karl war nicht da, nicht gekommen.
Eiligst kleideten sich die beiden Damen an. Nun war man ernstlich bestürzt; man ließ auch vor den Dienstboten die Maske fallen, lief unruhig und ratlos umher. Josepha blieb verhältnismäßig die Ruhigste, sie sagte gelassen:
»Er hat sich einen Rausch geholt, den er irgendwo ausschläft, weil er sich schämte.«
Aber auch diese ungewisse Möglichkeit zerfiel sehr bald, denn der Morgen stieg höher und nichts wurde vernehmbar. So machte sich Papa denn auf, nahm eine Droschke, fuhr zur Polizei. Man wußte nichts von Karl; keiner der in der Nacht Verunglückten oder Verhafteten konnte Karl sein. Herr Hilmar fuhr nach Hause in der Hoffnung, der junge Mann werde inzwischen angekommen sein; es ging bereits auf zehn, – aber auch das war eine Täuschung. So entschloß man sich, die Diener zu Freunden zu schicken, zu Verwandten und Bekannten Karls; niemand wußte von ihm zu melden.
Inzwischen versammelte sich das Personal des Hauses. Das Gerücht lief durch die langgestreckten Verkaufsräume: Der junge Herr wird vermißt; er ist seit gestern nicht gekommen. Teilnehmend hörten es die meisten, weil sie gut behandelt wurden, wenn auch streng gehalten.
Fräulein Pauline war die einzige Dame im Geschäft. Man wunderte sich vielfach, daß sie auf ihrem Posten aushielt; sie meinte aber, ein Mädchen müsse seine Tugend selbst schützen; je größer die Gefahr, desto größer war auch das Verdienst. Uebrigens war die Gefahr nicht groß in diesem Mustergeschäft, bei dieser feinen Kundschaft. Allerdings, es fehlte nicht an Versuchung, denn sie war eine pikante, üppige Blondine, kokett gekleidet, von ein wenig auffälligem, sehr entschiedenem Wesen. Nach ihrem Aeußeren hätte man sie für eine leicht zugängliche Kokette halten mögen, aber sie ging nie über einen harmlosen Scherz hinaus; wer mehr versuchte, dem begegnete sie nachdrücklich, ja grob. Sie unterstützte von ihrem Gehalt die Mutter und jüngere Geschwister.
Niemand bemerkte, daß Fräulein Pauline, die Kassiererin, die sich sonst durch außerordentliche Pünktlichkeit auszeichnete, heute fehlte. Schlag acht Uhr sah man sonst ihren hübschen, blonden Kopf hinter dem Kassentischchen auftauchen, jetzt – um halb neun Uhr – kam sie an, ganz atemlos und dunkelrot.
»Wissen Sie vielleicht etwas von ihm?« rief ihr der erste Kommis entgegen, ein ganz kleines, aber sonst hübsches Männchen mit gebrannten Locken und geschniegelter Toilette.
»Von wem?« fragte Pauline verwundert. Sie hatte ganz vergessen, daß Karl gestern abend nicht mehr in das Geschäft gekommen war.
»Von dem jungen Herrn. Er ist nicht nach Hause gekommen.«
Das junge Mädchen fuhr erzürnt auf:
»Wie soll ich wissen, was mit ihm geworden ist! Sie glauben doch nicht, daß ich Rendezvous mit ihm habe? – Es ist empörend.«
»Sie waren so aufgeregt, Fräulein Pauline,« meinte jener begütigend; »und außerdem, ich sah es doch, Sie hatten immer ein Auge auf ihn.«
Der kleine, hübsche, parfümduftende Kommis war offenbar eifersüchtig; Pauline aber hörte nicht auf die Anzüglichkeiten. Jetzt erst gab sie der Vorstellung Raum: Er ist nicht nach Hause gekommen, und mit dem Ausdruck des Schreckens und der Besorgnis fragte auch sie:
»Was ist aus ihm geworden?«
In fünfzig Varianten erzählte man ihr:
»Der junge Herr ist ausgeblieben. Vom jungen Herrn ist nichts zu hören, nichts zu sehen.« Niemand aber wußte ihr Näheres zu sagen.
Man hatte es, wie gesagt, nicht bemerkt, daß sie zu spät gekommen war, sie, die Pünktlichkeit selbst. Sie dachte einen Augenblick daran, sich beim Chef zu entschuldigen, aber er hörte sie nicht; er hatte ihr Zuspätkommen übersehen.
Alles fraternisierte heute mit dem Chef, lobte den Verschwundenen, kombinierte mit dem alten Herrn, wo Karl geblieben sein könne. Man hatte sonst gewaltigen Respekt vor dem Chef, der in seiner steifen, würdigen Haltung eine gewisse Unzugänglichkeit sich zu wahren gewußt. Heute machte der Schreck, die Besorgnis alle gleich; nur der kleine Kommis machte auch diesmal eine Ausnahme. Ein Kundiger hätte ihm die schlecht verhehlte Schadenfreude vom Gesicht lesen können.
Der junge Herr, der Verlobte der schönen Tochter des Hauses, nach dem auch die pikante Pauline angelte, war fort, verschwunden. Das war eigentlich kein Grund, sich zu ärgern. Der kleine Kommis hieß Waldenburg; er entstammte einem alten Adelsgeschlecht, aber der Chef hatte ihm die Bedingung gestellt, von seinem Adel keinen Gebrauch zu machen, und jener ging darauf ein, tat auch seine Schuldigkeit, aber er spielte doch gern den Freiherrn, den Ritterlichen, den Mann von Welt; auch hatte er wirklich seine Manieren. Anfangs machte er Josepha den Hof, und wenn diese es nicht merkte, so warf er sich auch ein wenig zum Kavalier der schönen Kassiererin auf. Alls reinem Vergnügen an der Sache geschah das alles; Josepha war ja nicht mehr frei, und Pauline würde ihn nicht erhören. Unbegreiflich genug war, warum sie sich so spröde zeigte. Ein hübsches Mädchen, das von früh bis abends an der Kasse saß und nach einem Vergnügen, einer Zerstreuung lechzen mußte, dazu ein tugendhaftes Mädchen, dem zarte Huldigungen gefallen mußten, und er, Waldenburg, war galant und ritterlich. Ach, er hatte alles: Namen, hübsches Aeußere, gewinnende Manieren, eine auskömmliche Stellung, nur er war zu klein. Josepha reichte er kaum an die Schulter, Pauline bis an den oberen Rand des Ohres; der sechzehnjährige Lehrling des Hauses war größer als er. Ach, wie froh war Herr von Waldenburg: Der hübsche, junge »Chef« war fort, neben dem nicht aufzukommen war. Tot? – Nein, tot brauchte er nicht zu sein, nur durchgebrannt, weil er eine Dummheit gemacht hatte, weil er eine andere liebte. Nur wiederkommen sollte er nicht; irgendwo in Amerika mochte es ihm wohlgehen, nur hier nicht.
Josepha war heute unten nicht zu sehen, also konnte man Pauline ein wenig Aufmerksamkeit zuwenden. Im Grunde genommen gefiel ihn? Pauline besser als Josepha, aber diese war doch die Tochter des Chefs.
»Warum kamen Sie heut so spät, Fräulein Pauline? – Es ist doch kein Unfall in Ihrer Familie geschehen?« –
»Ja, doch,« flüsterte Pauline. »Meine Tante hatte einen Schlaganfall.«
Waldenburg schnellte empor. Jene Tante war, wie er wußte, eine Erbtante, sie sollte Vermögen besitzen, ein geheimnisvolles Testament deponiert haben. In seinem findigen Vorstellungsvermögen entwickelten sich liebliche Möglichkeiten.
»Ist sie tot?« fragte er.
»Nein, es war nur eine Streifung.«
»Aber wenn es sich wiederholt?« fuhr er fort.
»Ach, wer wird daran denken!« wies ihn Pauline ab.
Er aber dachte daran. Wenn Pauline erbte! Sie gefiel ihm, aber ein ganz armes Mädchen heiraten, war doch ein Wagestück. Wenn er jedoch Ernst machte, seinem Namen würde man nicht widerstehen, und sein Rivale im Geschäft war fort, verschwunden. Leise flüsternd erwog er mit Paulinen die Chancen für die Genesung ihrer Tante; sie waren wie das junge Mädchen leider selbst zugeben mußte, gering. Aber sie sprach über das alles, offenbar ohne auch nur zu ahnen, woran Waldenburg dabei dachte.
Der Chef hatte sich in seiner Aufregung wieder entfernt, er war nochmals zur Polizei gegangen.