Größer als der Schmerz. Alex Tresniowski
an meine beiden älteren Brüder Timmy und John adressiert war. Bis dahin hatte immer jeder von uns sein eigenes Päckchen bekommen. Dieses Mal war da aber nur eins. Wir öffneten es gemeinsam und darin befand sich ein Radio. Es war ein einfaches Radio, weder ein sonderlich gutes noch ein schlechtes, doch es waren keine drei Geschenksendungen, eine für einen jeden von uns, so wie wir das für gewöhnlich erwartet hatten.
„Was sollen wir damit anfangen?“, fragte mein Bruder Timmy meine Mutter.
„Freut euch einfach darüber“, sagte sie.
Ich meine, es war letztlich John, der zwei Jahre älter ist als ich, der schließlich herausbekam, dass es nicht mein Vater war, der uns die ganzen Jahre über diese Geschenke geschickt hatte. In Wirklichkeit war es unsere Mutter gewesen. Jedes Jahr kaufte sie drei Geschenke, packte sie in je eine Schachtel, trug sie zur Post, schrieb Vaters Namen in das Feld für die Absenderadresse und schickte sie an unser Haus in Alexandria, Virginia. Wenn wir schlau genug gewesen wären, uns die Poststempel anzusehen, hätten wir gesehen, dass die Spielzeuge ihre Reise am selben Ort begannen und beendeten. Doch wir waren nicht so schlau. Wir waren einfach nur froh darüber, überhaupt Geschenke von unserem lang verschollenen Vater zu bekommen. Wir waren froh, dass er noch an uns dachte. Selbst nachdem John unsere Mutter mit dem Schwindel konfrontiert hatte, weigerte sie sich weiterhin, die ganze Geschichte auszupacken.
„Darum müsst ihr euch keine Gedanken machen“, sagte sie. „Euer Papa liebt euch.“
Meine Mutter sagte nie auch nur ein böses Wort über den Mann, der uns alle aufgegeben hatte. Nicht eine einzige Klage kam in all den Jahren, seit ich auf der Welt bin, über ihre Lippen. Wenn mein Vater seinen Kindern etwas angetan hat, indem er wegging und aus unserem Leben verschwand, und das hat er mit Sicherheit getan, dann sah es meine Mutter als ihre Aufgabe an, sein Andenken zu schützen und die Krise abzumildern. Ich bin sicher, dass sie es nicht ertragen konnte, uns die Wahrheit zu erzählen – dass unser Vater sich keinen Deut um uns scherte. Doch ich denke auch, dass sie nicht wollte, dass ihre Kinder einen Groll in ihrem Herzen hegten. Vielleicht hatte sie verstanden, dass die wahre Verletzung nicht das Verlassenwerden war, sondern die Wut, die dabei zurückbleibt.
Dass meine Mutter sich weigerte, schlecht oder überhaupt über meinen Vater zu reden, brachte mit sich, dass ich schier gar nichts über ihn wusste. Ich weiß bis heute nicht, wie sich meine Eltern kennengelernt oder warum sie sich getrennt haben. Ich weiß nicht, ob sie ein paar Jahre glücklich waren oder immer gestritten haben oder ob sie einander jemals wirklich geliebt haben – auch wenn ich das gern glauben möchte. Meine Mutter will noch immer nicht über diese Zeit reden. Für sie liegt das Ganze in der Vergangenheit und dort will sie es auch belassen.
Irgendwie war es mir auch egal, wie mein Vater war, denn ich wusste, dass ich meinen Charakter von meiner Mutter habe. Sie wuchs in High Point, North Carolina, auf, einer kleinen Stadt in den Südstaaten, wo die Sommer lang und heiß und die Erwachsenen streng, aber liebevoll waren. Sie hat sich stets ordentlich verhalten, und sie brachte ihren Kindern Manieren, Höflichkeit und Gottesfurcht bei, doch gleichzeitig war sie hart und streitlustig. Sie ließ sich nicht schikanieren, und sie wollte, dass wir, wenn wir erwachsen sind, über dieselbe Robustheit verfügen. Meine Mutter war eine Überlebenskünstlerin, schließlich zog sie ohne die Hilfe eines Mannes drei Kinder groß, und ich war stolz darauf, dass ich etwas von ihrer Lebendigkeit und ihrem Sinn für Unabhängigkeit geerbt habe. Schon als Kind war ich lebhaft und direkt. Ich sah keinen Grund dafür, meine Meinung für mich zu behalten. Hatte ich das Gefühl, etwas müsste gesagt werden, dann sagte ich es. Ich mochte es nicht, zu schweigen oder gesagt zu bekommen, was zu tun sei. Dass mein Mundwerk mich aber manchmal in Schwierigkeiten brachte, war eben der Preis dafür, dass ich so bin, wie ich bin.
Aus diesem Grund geriet dann wohl auch alles aus den Fugen, als plötzlich mein Vater wieder in mein Leben trat.
Ich war damals gerade zehn Jahre alt, als meine Mutter krank wurde. Wir wussten nicht, was ihr fehlte, doch später fand ich heraus, dass es Krebs war. Die Krankheit bereitete meiner Mutter ziemlich Angst, und sie traf die Entscheidung, dass es an der Zeit sei, dass wir unseren Vater kennenlernen – für den Fall, dass sie stirbt und wir bei ihm leben mussten. Das ist der Grund, warum sie ihn dazu gebracht hatte, uns drei Kindern zum ersten Mal an Weihnachten ein Geschenk aus seinen eigenen Händen zu schicken – das Radio. Sie wollte damit eine Tür öffnen, die zwischen uns lange verschlossen war.
In dem Sommer, als ich zehn wurde, schickte meine Mutter meine Brüder und mich weg, um bei meinem Vater und seiner neuen Frau in ihrem Haus in York, South Carolina, zu leben. Keiner von uns ist gern gegangen. Ich erinnere mich nicht mehr, wer uns dorthin gefahren hat, aber ich erinnere mich daran, wie wir drei auf der Veranda des großen weißen Kolonialhauses standen und schüchtern an die Tür klopften. Sie öffnete sich und wir sahen zwei kleine Mädchen dastehen, ungefähr in meinem Alter. Sie starrten uns eine Weile an. Und dann schlugen sie uns die Tür vor der Nase zu.
Von da an wurde alles nur noch schlimmer.
Dieser erste Sommer in York – der Sommer, in dem ich meinen Vater kennenlernte – war lang, hart und eigenartig. Es war offensichtlich, dass niemand uns dort haben wollte – weder die Frau meines Vaters noch ihre fünf jungen Töchter, geschweige denn mein Vater selbst. Er machte uns deutlich, dass wir für ihn und seine Familie nur eine einzige Zumutung waren. Anstatt uns im selben Schlafzimmer wie seine Töchter schlafen zu lassen, verlangte er von uns, dass Timmy, John und ich auf dem Boden im Wohnzimmer schliefen. Und wenn Arbeiten zu verrichten waren, hatten wir drei den Eindruck, als würden wir immer mehr als unseren gerechten Anteil erledigen müssen. Gab es beispielsweise im Garten Gemüse zu ernten, schickte mein Vater nicht etwa eine seiner Stieftöchter, sondern mich.
„Ich bin aus der Stadt“, sagte ich ihm. „Wir ernten da kein Gemüse.“
„Pass auf, was du sagst“, erwiderte er.
Irgendwann in dem Sommer bat ich meinen Vater, dass er mir unbedingt etwas kaufen musste.
„Ich brauche Damenbinden“, sagte ich.
„Ich kann dir nicht helfen“, antwortete mein Vater barsch. Er sagte nicht, warum.
„Aber ich brauche sie“, sagte ich. Doch er ließ nicht mit sich reden. Er versagte mir die Binden nicht etwa als eine Art Strafe. Ich interessierte ihn einfach nicht genug, um mir zu helfen, sie zu bekommen.
„Du bist gemein zu diesem Kind“, warnte ihn an diesem Tag seine Mutter – meine Oma. „Denke daran, wenn du sie schlecht behandelst. Sie wird eines Tages diejenige sein, die dich unter die Erde bringt, wenn du alt bist.“ Als Antwort grunzte mein Vater nur. Und er war weiterhin gemein zu uns. Es war, als ob Timmy, John und ich seine Stiefkinder wären und die Kinder seiner zweiten Frau seine richtigen. Und weil diese genau wussten und spürten, dass sie bevorzugt wurden, verhielten sich die Mädchen schrecklich uns gegenüber – insbesondere mir gegenüber.
„Aus dir wird niemals jemand“, sagte eine von ihnen. „Du wirst eine Herumtreiberin.“
„Ja, du bist ein Niemand“, sagte eine andere. „Du bist nichts und aus dir wird nichts.“
Selbst die zweite Frau meines Vaters gewöhnte sich an, mich mit ihren Töchtern zu vergleichen, und das nicht auf schmeichelhafte Weise. Wenn es nach ihr ging, waren sie klüger, hübscher und insgesamt bessere Menschen als ich. Selbstverständlich hatten sie auch eine verheißungsvollere Zukunft. Ich glaube, manchmal habe ich gehofft und mir gewünscht, mein Vater würde für mich in die Bresche springen, doch das tat er nie. Das ständige Schikanieren hörte einfach nicht auf.
Das einzig Gnädige in diesem Sommer war die Zeit, die ich mit meiner Oma – ihr gehörte das weitläufige Anwesen, auf dem das Haus meiner Tante stand – und mit meinen Tanten verbrachte: Tante Bee, Tante Katie und Tante Joann. Sie alle mochten mich anscheinend mehr als mein Vater. Oma lebte in einem großen Haus, das einen Fußweg vom Haus meiner Tante entfernt lag. Nachdem ich wusste, wie ich dorthin gelangen konnte, ging ich fast jeden Tag hin. Ich kannte meine Oma nicht wirklich und anfangs redeten wir nicht viel miteinander. Doch ich denke, nachdem der Sommer vorüber war, gefiel es ihr, mich um sich zu haben. Meine Brüder und ich halfen ihr dabei, ihre Hühner und Schweine zu